Sieht man ein nationales Erbrechtszeugnis hingegen nicht als "Entscheidung" iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO an und unterwirft es daher nicht den Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO, so ermöglicht das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO dem Erben, sein Erbrecht entweder durch ein im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (im Beispielsfall: Italien) ausgestelltes ENZ oder durch ein im Verwendungsstaat (im Beispielsfall: Deutschland) ausgestelltes nationales Erbrechtszeugnis nachzuweisen.
Beide Arten von Nachlasszeugnissen lassen sich effektiv im Verwendungsstaat verwenden, ohne dass sich insoweit das Problem der Substitution stellen kann: Das ENZ entfaltet seine Wirkungen über Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO, das nationale Erbrechtszeugnis des Verwendungsstaats ist in dessen Rechtsordnung integriert und wird daher von den Behörden und Gerichten des Verwendungsstaats ohne Weiteres akzeptiert.
Hierdurch wird dem Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO zu praktischer Wirksamkeit verholfen; es kommt zu einem echten "Wettbewerb" zwischen ENZ und nationalem Erbrechtzeugnis des Verwendungsstaats mit verteilten Vor- und Nachteilen:
aa) Vorteile des ENZ
Den Weg über das ENZ werden die Erben idR dann gehen, wenn die erbrechtliche Lage kompliziert ist: Wegen des grundsätzlichen "Gleichlaufs" von internationaler Zuständigkeit (Art. 4 EU-ErbVO) und anwendbarem Recht (Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO) kann die Ausstellungsbehörde des ENZ regelmäßig ihr eigenes Sachrecht anwenden, sodass sie mit höherer Richtigkeitsgewähr entscheidet als die für die Ausstellung des nationalen Erbrechtszeugnisses zuständige Stelle des Verwendungsstaats, aus deren Sicht sich die Bestimmung der Erbfolge über Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO als Fremdrechtsanwendung darstellt. Auch die Notwendigkeit, ggf. ein teures Sachverständigengutachten zum fremden Recht einholen zu müssen, entfällt beim Weg über das ENZ, sodass sich dieser als schneller und kostengünstiger als derjenige über das nationale Erbrechtszeugnis erweisen kann.
bb) Vorteile des Erbrechtszeugnisses des Verwendungsstaats
Den Weg über ein nationales Erbrechtszeugnis des Verwendungsstaats werden die Erben idR dann gehen, wenn die erbrechtliche Lage relativ einfach zu beurteilen ist: In diesem Fall wiegen die Nachteile der Fremdrechtsanwendung nicht schwer; dem stehen als Vorteile des nationalen Erbrechtszeugnisses u. U. kurze Wege für die im Verwendungsstaat ansässigen Erben gegenüber, ebenso die Möglichkeit, mit der zuständigen Stelle des Verwendungsstaats in der eigenen Sprache kommunizieren zu können.
In obigem Beispielsfall erspart das deutsche Erbscheinsverfahren – im Vergleich zu einem gemäß Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO iVm Art. 4 EU-ErbVO in Italien auszustellenden ENZ – Reise- und Dolmetscherkosten, welche zwar nicht für das ENZ selbst, wohl aber für die Durchführung des Verfahrens zur Erteilung des ENZ anfallen würden und von A und B zu tragen wären. Die Nachteile einer Fremdrechtsanwendung durch das deutsche Nachlassgericht halten sich in Grenzen, da sich die (gemäß Art. 21 Abs. 1 EU-ErbVO italienischem Recht unterliegende) Erbfolge – beide Kinder erben zu je 1/2 – unproblematisch aus dem italienischen Gesetz (Art. 566 Codice Civile) ergibt.
cc) Spezielle Wettbewerbsvorteile des deutschen Erbscheins
Speziell der deutsche Erbschein weist gegenüber dem ENZ zwei weitere Vorteile auf. Erstens reicht er in seiner Gutglaubenswirkung weiter als das ENZ: Der gute Glaube in das ENZ gemäß Art. 69 Abs. 3 und Abs. 4 EU-ErbVO ist bereits bei grob fahrlässiger Unkenntnis der Unrichtigkeit erschüttert, während bei einem deutschen Erbschein gemäß §§ 2366, 2367 BGB nur positive Kenntnis schadet. Wegen dieser geringeren Gutglaubenswirkung steht zu befürchten, dass Banken – was rechtlich wohl möglich ist – ein ENZ zur Legitimation des Erben als nicht ausreichend ansehen und stattdessen auf der Vorlage eines deutschen Erbscheins bestehen.
Zweitens sind die beglaubigten Abschriften des ENZ gemäß Art. 70 Abs. 3 Satz 1 EU-ErbVO nur für einen begrenzten Zeitraum von sechs Monaten gültig, sodass der Erbe u. U. gezwungen ist, eine weitere beglaubigte Abschrift im EU-Ausland einzuholen. Der hiermit verbundene Aufwand an Zeit und Kosten stellt einen weiteren praktischen Nachteil im Vergleich zum deutschen Erbschein dar, der kein "Verfallsdatum" kennt und gemäß § 2361 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 BGB gültig bleibt, bis er eingezogen oder für kraftlos erklärt wird.