Im Rahmen einer verordnungsautonomen Auslegung bietet sich ein Vergleich mit dem Europäischen Nachlasszeugnis (= ENZ) an, zu dessen Ausgestaltung und Wirkungsweise die EU-ErbVO – anders als zur Behandlung nationaler Erbrechtszeugnisse – in Kapitel VI (Artt. 62 ff EU-ErbVO) detaillierte Regelungen enthält, aus denen sich mittelbar Rückschlüsse für die Voraussetzungen des Begriffs der "Entscheidung" ableiten lassen.
1. Fehlender Entscheidungscharakter des ENZ
Aus Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO, aus Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO und aus Erwägungsgrund 69 Satz 2 folgt zunächst, dass der Verordnungsgeber das ENZ nicht als "Entscheidung" im Sinne der Artt. 3 Abs. 1 lit. g, Artt. 4 ff, 39 ff EU-ErbVO angesehen hat:
a) Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO als "Türöffner" zu Kapitel II
Nach Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO wird ein ENZ in dem Mitgliedstaat ausgestellt, dessen Gerichte nach Artt. 4, 7, 10 oder 11 EU-ErbVO zuständig sind. Aus der Existenz dieser Norm lässt sich mittelbar auf den fehlenden Entscheidungscharakter des ENZ schließen: Würde man die Ausstellung eines ENZ, die durch ein Gericht im Sinne der Artt. 3 Abs. 2, 64 Satz 2 lit. a EU-ErbVO erfolgt, zugleich als "Entscheidung" iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO ansehen, so würden hierauf die Vorschriften des Kapitels II (Artt. 4-19 EU-ErbVO) bereits direkte Anwendung finden. Der Verweisungsnorm des Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO, welche die Zuständigkeitsvorschriften des Kapitels II – quasi als "Türöffner" – erst für anwendbar erklärt, hätte es dann nicht bedurft.
b) Wirkungserstreckung nur über Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO
Gemäß Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO entfaltet das ENZ seine Wirkungen in allen Mitgliedstaaten, ohne dass es eines besonderen Verfahrens bedarf. Würde man die Ausstellung des ENZ als eine "Entscheidung" iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO ansehen, so hätte es dieser Sondervorschrift nicht bedurft, da sich dann die Wirkungserstreckung bereits aus der (mit Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO funktional vergleichbaren) Anerkennungsvorschrift des Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO ergeben hätte.
c) Erwägungsgrund 69 Satz 2
Die Ausstellung eines ENZ nicht als "Entscheidung" iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO anzusehen wird gestützt durch Erwägungsgrund 69 Satz 2: Der Verordnungsgeber stellt der Ausstellung eines ENZ hier die "anderen nach dieser Verordnung zur Verfügung stehenden Instrumente (Entscheidung, öffentliche Urkunde und gerichtlicher Vergleich)" als Alternativen gegenüber – und gibt damit mittelbar zu erkennen, dass es sich beim ENZ nicht um eine Entscheidung handelt, sondern um ein erbrechtliches Nachweisdokument sui generis.
2. Besonderheiten des ENZ im Vergleich zu Gerichtsentscheidungen
Sucht man den tieferen Grund dafür, warum die EU-ErbVO das ENZ nicht als "Entscheidung" iSv Art. 3 Abs. 1 lit. g EU-ErbVO ansieht, muss man die Besonderheiten in den Blick nehmen, die das ENZ im Vergleich zu herkömmlichen gerichtlichen Entscheidungen aufweist. Hierbei sind die folgenden zwei Aspekte relevant:
a) Fehlende materielle Rechtskraftfähigkeit
Das ENZ ist – auch wenn es nach Art. 64 Satz 2 lit. a EU-ErbVO durch ein Gericht ausgestellt wird – nicht der materiellen Rechtskraft fähig: Das ENZ kann nach Art. 71 Abs. 2 EU-ErbVO von der Ausstellungsbehörde von Amts wegen geändert oder widerrufen werden, wenn feststeht, dass das Zeugnis oder einzelne Teile des Zeugnisses inhaltlich unrichtig sind. Die Entscheidung über die Ausstellung des ENZ kann nach Art. 72 EU-ErbVO angefochten werden; hierfür sieht die EU-ErbVO keine Frist vor.
b) Fehlende Anerkennungsfähigkeit materiellrechtlicher Wirkungen
Das ENZ entfaltet gemäß Art. 69 Abs. 2 bis Abs. 4 EU-ErbVO lediglich Wirkungen auf materiellrechtlicher Ebene: Art. 69 Abs. 2 EU-ErbVO begründet eine Vermutung für die Rechtsinhaberschaft des im ENZ genannten Erben (Vermutungswirkung), Art. 69 Abs. 3 und Abs. 4 EU-ErbVO schützen einen gutgläubigen Vertragspartner (Gutglaubenswirkung). Feststellungs- oder Gestaltungswirkung in Bezug auf die verlautbarte Rechtslage entfaltet das ENZ jedoch nicht.
Über die zivilprozessuale Anerkennung können nur die verfahrensrechtlichen Wirkungen einer ausländischen Entscheidung auf das Inland erstreckt werden. Die Vermutungs- und Gutglaubenswirkung des ENZ liegt jedoch als sog. "Tatbestandswirkung" auf der Ebene des materiellen Rechts und damit außerhalb des Anwendungsbereichs zivilprozessualer Anerkennungsvorschriften. Dies ist der dogmatische Grund dafür, dass die Wirkungen des Art. 69 Abs. 2 bis Abs. 4 EU-ErbVO nicht schon über die allgemeine Anerkennungsvorschrift des Art. 39 Abs. 1 EU-ErbVO auf andere Mitgliedstaaten als den Ausstellungsstaat erstreckt werden können. Um diese Wirkungserstreckung zu erzielen, bedurfte es vielmehr der Sondervorschrift des Art. 69 Abs. 1 EU-ErbVO.
3. Gemeinsamkeiten von deutschem Erbschein und ENZ
Die beiden vorgenannten Besonderheiten, die das ENZ im Vergleich zu herkömmlichen gerichtlichen Entscheidungen aufweist, bestehen auch beim deutschen Erbschein, sodass ni...