Dass die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO für die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses nicht gelten (was sich dogmatisch mit dessen fehlendem Entscheidungscharakter begründen lässt), wird bestätigt durch Art. 62 Abs. 3 Satz 1 EU-ErbVO und Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO, die Regelungen zum Verhältnis des ENZ zu nationalen Erbrechtszeugnissen enthalten:
Nach Art. 62 Abs. 3 Satz 1 EU-ErbVO soll das ENZ nicht an die Stelle der innerstaatlichen Schriftstücke treten, die in den Mitgliedstaaten zu ähnlichen Zwecken verwendet werden. Aus dieser Vorschrift lässt sich neben einer Institutsgarantie für nationale Erbrechtszeugnisse folgern, dass die EU-ErbVO nationale Erbrechtszeugnisse und das ENZ grundsätzlich als gleichwertig ansieht.
Nach Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO und Erwägungsgrund 69 Satz 1 soll die Verwendung des ENZ nicht verpflichtend sein. Der Verordnungsgeber will dem Erben folglich ein Wahlrecht geben, ob er sein Erbrecht entweder durch ein ENZ oder durch ein – als gleichwertig erachtetes – nationales Erbrechtszeugnis nachweisen will. Damit das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO zu praktischer Wirksamkeit ("effet utile") gelangen kann, müssen die Vorschriften der EU-ErbVO in Bezug auf nationale Erbrechtszeugnisse so ausgelegt werden, dass dem Erben auch ohne ENZ überhaupt eine rechtliche Möglichkeit verbleibt, sein Erbrecht durch ein nationales Erbrechtszeugnis nachzuweisen.
1. Begrenzte Anwendungsfälle des Wahlrechts aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO
a) Verwendung im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts
Die Frage des Wahlrechts aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO stellt sich von vornherein nicht in Fällen, in denen der Erbe einen Nachweis seines Erbrechts ausschließlich im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers benötigt. Die Ausstellung eines ENZ ist hier nämlich wegen des Fehlens eines grenzüberschreitenden Bezugs ausgeschlossen:
Zuständig für die Ausstellung des ENZ wären gemäß Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO in Verb. mit Art. 4 EU-ErbVO die Gerichte bzw. Behörden im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts. Da das ENZ aber ausschließlich zur Verwendung im Ausstellungsstaat selbst bestimmt ist, hingegen nicht zur Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat, ist die Ausstellung eines ENZ gemäß Artt. 62 Abs. 1, 63 Abs. 3, 65 Abs. 3 lit. f EU-ErbVO unzulässig. In dieser Fallgruppe besteht daher nur die Möglichkeit, das Erbrecht im Ausstellungsstaat durch ein nationales Erbrechtszeugnis eben dieses Ausstellungsstaats nachzuweisen.
b) Verwendung in einem anderen Mitgliedstaat
Das Wahlrecht aus Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO kann somit lediglich in Fällen – wie etwa in obigem Beispielsfall – relevant werden, in denen der Erbe einen Nachweis seines Erbrechts (zumindest auch, vgl. Art. 62 Abs. 3 Satz 2 EU-ErbVO) in einem anderen Mitgliedstaat (im Beispielsfall: Deutschland) als dem Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers (im Beispielsfall: Italien) benötigt. Die für die Ausstellung eines ENZ erforderliche Voraussetzung der grenzüberschreitenden Verwendungsabsicht (Artt. 62 Abs. 1, 63 Abs. 3, 65 Abs. 3 lit. f EU-ErbVO) ist in dieser Fallgruppe erfüllt.
2. Wirkungserstreckung ausländischer Erbrechtszeugnisse
Würde man auf die Erteilung eines nationalen Erbrechtszeugnisses die Zuständigkeitsvorschriften der Artt. 4 ff EU-ErbVO anwenden, so liefe die internationale Zuständigkeit für die Erteilung des nationalen Erbrechtszeugnisses und für die Ausstellung eines ENZ (Art. 64 Satz 1 EU-ErbVO) parallel; für beide Arten von Erbrechtszeugnissen wären grundsätzlich gemäß Art. 4 EU-ErbVO die Nachlassgerichte bzw. Behörden im Mitgliedstaat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers ausschließlich zuständig.
In der für das Wahlrecht des Art. 62 Abs. 2 EU-ErbVO relevanten Fallgruppe geht es allerdings nicht darum, welche Wirkungen ein nationales Erbrechtszeugnis im Ausstellungsstaat (d. h. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthalts) entfaltet, sondern welche Wirkungen es in einem anderen Mitgliedstaat entfaltet, in dem das Erbrechtszeugnis verwendet werden soll. Hierbei handelt es sich um die Frage, ob eine ggf. bestehende Vermutungs- und Gutglaubenswirkung des nationalen Erbrechtszeugnisses des Mitgliedstaats des letzten gewöhnlichen Aufenthalts (im obigen Beispielsfall: Italien) auf den Verwendungsmitgliedstaat (im Beispielsfall: Deutschland) erstreckt werden kann.
a) Keine Wirkungserstreckung nach Artt. 39 Abs. 1, 59 Abs. 1 EU-ErbVO
Da die Erstreckung die Vermutungs- und Gutglaubenswirkung – und damit materiellrechtliche Rechtsfragen – betrifft, lässt sich die Frage der Wirkungserstreckung nicht mit den zivilprozessualen Anerkennungsvorschriften der Artt. 39 ff EU-ErbVO beantworten. Auch Art. 59 Abs. 1 EU-ErbVO enthält keine Regelung zu der Frage, ob ein nationales Erbrechtszeugnis seine materiellrechtlichen Wirkungen auch in...