Auch bei der Anrechnung auf den Pflichtteil hat das ErbRÄG 2015 eine grundlegende Veränderung und Vereinfachung gebracht. Nach alter Rechtslage wurden bei der Rechenmethode zwei Töpfe gebildet, einerseits der Nachlass, wie er zum Zeitpunkt des Todes tatsächlich ist, und andererseits der hypothetische Nachlass, wie er zum Zeitpunkt des Todes wäre, wäre die Schenkung nicht gemacht worden. Von der Differenz (also der Summe der Schenkungen) wurde der erhöhte Pflichtteil errechnet und nur auf diesen musste sich der Beschenkte die Schenkung anrechnen lassen, sodass er seinen sogenannten "gemeinen Pflichtteil" jedenfalls erhielt. Nach neuer Rechtslage schlägt man die gemachten Schenkungen rechnerisch sofort dem Nachlass hinzu, wovon dann jeweils die Pflichtteile errechnet werden. Die Schenkung ist also bei der Anrechnung vom gesamten Pflichtteil und nicht wie bisher nur von der Pflichtteilserhöhung (Schenkungspflichtteil) abzuziehen (§ 781 Abs. 1 ABGB nF). Bei den anrechenbaren Schenkungen wird im österreichischen Recht jedoch unterschieden, an wen die Schenkungen gemacht wurden: Schenkungen an Dritte, also an nicht abstrakt Pflichtteilsberechtigte, werden nur dann angerechnet, wenn sie innerhalb von zwei Jahren vor dem Tod des Erblassers gemacht wurden (§ 782 Abs. 1 ABGB nF). Schenkungen an abstrakt Pflichtteilsberechtigte werden dagegen unbeschränkt angerechnet (§ 783 Abs. 1 ABGB nF). Die Entwürfe zum ErbRÄG 2015 haben sich auch mit einer Zehn-Jahres-Frist auseinandergesetzt, diese wurde jedoch anders als im deutschen Recht letztlich nicht übernommen.
Der Schenkungsbegriff ist weit zu verstehen und erfasst nach § 781 Abs. 2 Z 1 bis 6 ABGB nF auch die Ausstattung eines Kindes, den Vorschuss auf den Pflichtteil, die Abfindung für einen Erb- und Pflichtteilsverzicht, die Vermögenswidmung an eine Privatstiftung, die Einräumung einer Begünstigtenstellung und jede andere Leistung, die nach ihrem wirtschaftlichen Gehalt einem unentgeltlichen Rechtsgeschäft unter Lebenden gleichkommt.
Wenn der Reinnachlass nun nicht ausreicht, um die Pflichtteilsberechtigten gemäß ihrer Anteile zu befriedigen, so bestimmt § 789 Abs. 1 ABGB nF Folgendes: "Wenn bei Bestimmung der Pflichtteile Schenkungen hinzu- oder angerechnet werden, die Verlassenschaft aber zur Deckung der Pflichtteile nicht ausreicht, kann der verkürzte Pflichtteilsberechtigte vom Geschenknehmer die Zahlung des Fehlbetrags verlangen (...)".
Die Bewertung erfolgt nach § 788 ABGB nF nunmehr zum Schenkungszeitpunkt, begleitet von einer Valorisierung nach dem Verbraucherpreisindex bezogen auf den Todeszeitpunkt.
Auf den konkreten Fall bezogen heißt das also: Max ist Alleinerbe, Tina hat einen Pflichtteilsanspruch in Höhe der Hälfte ihres gesetzlichen Erbteils, somit in Höhe von 1/4. Aufgrund der Schenkung an die Pflichtteilsberechtigte Tina wird der Betrag der Schenkung dem Reinnachlass rechnerisch hinzugeschlagen, wodurch ein erhöhter Nachlass von insgesamt 1.100.000,– EUR entsteht. Die Pflichtteile von Max und Tina, die es zu befriedigen gilt, betragen demnach jeweils 275.000,– EUR. Tina muss sich ihre Schenkung auf diesen Betrag anrechnen lassen und erhält nichts mehr. Max erhält 1.000,– EUR und hat einen weiteren Anspruch in der Höhe von 274.000,– EUR gegen Tina. Tina ist auch zur Herausgabe verpflichtet, da ihre Schenkung als Pflichtteilsberechtigte unbefristet angerechnet wird und dementsprechend auch ihre Haftung zur Deckung der Pflichtteile gemäß § 791 ABGB nF unbefristet besteht.
Das österreichische Recht kommt damit gegenüber dem deutschen Recht zu einer erheblichen Schwächung der Rechte des beschenkten Pflichtteilsberechtigten. Ein Umstand, der auch dem deutschen erbrechtlichen Berater bei der Empfehlung der für den Mandanten optimalen Gestaltung der letztwilligen Verfügung unabdingbar wichtig ist. Im vorliegenden Fall würde man dem späteren Erblasser wohl tunlichst dazu raten, die Vermögensnachfolge nach österreichischem Recht vorzunehmen.