1. Fall
Edgar und Marie sind miteinander verheiratet und haben zwei gemeinsame Kinder, Max und Tina. Einen Ehevertrag haben sie nicht errichtet. Als Edgar verstirbt, hat er überraschenderweise seine Lebensgefährtin als Alleinerbin eingesetzt. Wie gestalten sich die Pflichtteilsquoten von Marie, Max und Tina?
a) Lösung nach deutschem Recht
Nach deutschem Recht hat die Ehefrau Marie neben einem Anspruch auf den konkreten Zugewinn (§ 1371 Abs. 2 BGB iVm §§ 1373 ff BGB) einen gesetzlichen Pflichtteilsanspruch von 1/8, §§ 2303 Abs. 2, 1931 Abs.1 S.1, 3, 1371 Abs. 2 2. HS BGB. Man spricht hier auch vom sog. "kleinen Pflichtteilsanspruch", der sich aus der nicht erhöhten gesetzlichen Erbquote ableitet. Ein Anspruch auf den sog. "großen Pflichtteil", also der Hälfte des um 1/4 erhöhten Ehegattenerbteils, kann nur dann verlangt werden, wenn der Ehegatte auf eine Erbquote eingesetzt ist, die unter seinem Pflichtteil liegt (sog. Zusatzpflichtteil), oder wenn der Ehegatte mit einem Vermächtnis bedacht wurde, dessen Wert ebenfalls unter dem Pflichtteil liegt (sog. Pflichtteilsrestanspruch).
Die Kinder Max und Tina haben demgegenüber jeweils einen gesetzlichen Pflichtteilsanspruch in Höhe von 3/16, § 2303 Abs. 1 BGB. Die Quoten bemessen sich aus der Hälfte der Erbteile, die ihnen abzüglich des nicht erhöhten Ehegattenerbteils (1/4) zustünden.
b) Lösung nach österreichischem Recht:
Grundsätzlich soll in Österreich der künftige Erblasser über die Verteilung seines Vermögens nach seinem Tod frei verfügen können. Diese Intention des Gesetzgebers ist auch im ErbRÄG 2015 deutlich wahrnehmbar und wird immer mehr verstärkt. Eine gravierende Einschränkung dieser Testierfreiheit ist jedoch nach wie vor das Pflichtteilsrecht. Der Pflichtteil ist nach der Definition des § 756 ABGB nF "der Anteil am Wert des Vermögens des Verstorbenen, der dem Pflichtteilsberechtigten zukommen soll". Man unterscheidet die abstrakte und die konkrete Pflichtteilsberechtigung, was insbesondere im Anrechnungsrecht (dazu weiter unten) eine Rolle spielt. Abstrakt pflichtteilsberechtigt sind gemäß § 757 ABGB nF:
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die Nachkommen sowie |
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der Ehegatte oder eingetragene Partner des Verstorbenen. |
Als Nachkommen gelten sowohl seine Kinder (dazu zählen nach § 197 Abs. 1 ABGB auch Wahlkinder) als auch – iSd § 42 ABGB – die Kindeskinder (insbesondere Enkel und Urenkel).
Bis zum Inkrafttreten des ErbRÄG 2015 waren nach österreichischem Recht auch Vorfahren des Verstorbenen abstrakt pflichtteilsberechtigt. Zu dieser Änderung heißt es in den Erläuterungen der Regierungsvorlage:
"Das Pflichtteilsrecht der Eltern hat geringe praktische Bedeutung, weil Kinder im Regelfall nicht vor ihren Eltern sterben (B. Jud in Fischer-Czermak/Hopf/Kathrein/Schauer, ABGB 2011, 252). Dies gilt umso mehr für die Großeltern und Urgroßeltern des Verstorbenen (vgl. auch Hoffmann in FS Welser [2004] 291). Auch sind die Eltern in der Regel wohlhabender als die Kinder. Vor allem aber erwerben sich die Kinder im Laufe ihres Lebens einen Großteil des Vermögens selbst; die "Starthilfe" ihrer Eltern steht zum Zeitpunkt ihres – normalerweise späten – Todes nicht mehr im Vordergrund. Es spricht daher alles dafür, dass Vorfahren – sollten sie noch leben – nicht als Pflichtteilsberechtigte zum Zug kommen. Auch das Begutachtungsverfahren hat keine Umkehr dieses Befundes nahegelegt."
Lebensgefährten haben durch die Novelle zwar ein außerordentliches Erbrecht, jedoch nach wie vor kein Pflichtteilsrecht erhalten. Nach § 758 Abs. 1 ABGBG nF steht einer abstrakt pflichtteilsberechtigten Person ein Pflichtteil zu, d. h. sie ist auch konkret pflichtteilsberechtigt, wenn ihr bei gesetzlicher Erbfolge ein Erbrecht zustünde, sie nicht enterbt wurde und nicht auf den Pflichtteil verzichtet worden ist. Die Höhe des Pflichtteils ist die Hälfte dessen, was der pflichtteilsberechtigten Person nach der gesetzlichen Erbfolge zustünde (§ 759 ABGB nF). Einen konkreten Pflichtteilsanspruch hat selbstverständlich nur, wessen Pflichtteil nicht (ausreichend) gedeckt ist. Richten kann sich dieser Anspruch auf den Geldpflichtteil als Ganzes (wenn der Pflichtteil ansonsten gar nicht gedeckt ist – § 761 Abs. 2 ABGB nF) oder auf die Ergänzung des nicht vollständig gedeckten Pflichtteils in Geld (§ 763 ABGB nF). Erfolgt die Pflichtteilsdeckung durch belastete Zuwendungen, so kann sich der Pflichtteilsanspruch auf die Freistellung von diesen richten (§ 762 ABGB nF).
Im vorliegenden Sachverhalt hat Edgar von seiner Testierfreiheit Gebrauch gemacht und durch letztwillige Verfügung seine Lebensgefährtin als Alleinerbin eingesetzt, was grundsätzlich bei Vorliegen der Voraussetzungen einer formgültigen letztwilligen Verfügung möglich ist. Die hinterbliebene Ehefrau Marie sowie die Kinder Max und Tina gehen jedoch nicht leer aus. Sie haben Pflichtteilsansprüche gegen die Erbin. Die gesetzliche Erbquote des Ehegatten oder des eingetragenen Partners beträgt nach § 744 Abs. 1 ABGB nF neben Kindern des Verstorbenen und deren Nachkommen in Österreich 1/3 der Verlassenschaft. Die Pflichtteilsans...