1. Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt
Die aus deutscher Sicht bedeutendste Änderung durch das Inkrafttreten der Erbrechtsverordnung ergibt sich aus Art. 16 des Vorschlags: Soweit die Verordnung nichts anderes bestimmt, wird danach künftig die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen dem Recht des Staates unterliegen, in dem der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.
Die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit des Erblassers ist die wohl in den meisten EU-Staaten geltende Regelung. Eine Übernahme in die Verordnung ist jedoch von Anfang an unwahrscheinlich gewesen, da die Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit aus politischen Gründen nicht gewünscht ist. Dagegen wird der gewöhnliche Aufenthalt als Anknüpfungspunkt favorisiert, weil er die Integration im Mitgliedsstaat des gewöhnlichen Aufenthalts begünstige.
Daraus ergibt sich aber auch die Absage an eine gespaltene Anknüpfung des Erbstatuts. Widerstand gegen die Nachlasseinheit war selbst aus solchen Staaten, die traditionell die Nachlassspaltung vornehmen, nicht gekommen. Grund dafür ist wohl, dass mittlerweile die persönliche Komponente im Erbrecht europaweit wichtiger ist als die rein sachenrechtlichen Aspekte. Die vorgeschlagene Regelung führt sogar zu einer erheblich konsequenteren Durchführung des Grundsatzes der Nachlasseinheit als das bisherige deutsche Internationale Erbrecht, da eine nachlassspaltende Rechtswahl (Art. 25 Abs. 2 EGBGB), eine nachlassspaltende Rück- bzw. Weiterverweisung (Art. 4 Abs. 1 EGBGB) und schließlich ein sog. kollisionsrechtliches vorrangiges Einzelstatut iSv Art. 3 a Abs. 2 EGBGB nicht mehr beachtet werden.
2. Definition des gewöhnlichen Aufenthalts
Der gewöhnliche Aufenthalt wird in der Verordnung nicht definiert. Insoweit ist man also nicht den Vorschlägen gefolgt, die häufig im Zusammenhang mit der Studie bzw. dem Grünbuch geäußert wurden. Ausgehend davon, dass bei der Auslegung von europäischen Rechtsakten eine Lückenfüllung auf der Basis der nationalen Rechtsordnungen unzulässig ist und eine "autonome" Auslegung auf europäischer Ebene anzustreben ist, wird allein eine Orientierung an der Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in Betracht kommen. Dieser hatte sich bereits zur Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts im Rahmen der Europäischen Verordnung Nr. 2201/2003 vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen (Brüssel IIa-Verordnung) geäußert. Durch Entscheidung vom 2. April 2009 hat er den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts iSv Art. 8 Brüssel II a-Verordnung wie folgt definiert:
"Unter dem gewöhnlichen Aufenthalt ist der Ort zu verstehen, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hierfür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedsstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen."
In dieser Definition kann man erkennen, dass bislang überwiegend der gewöhnliche Aufenthalt von Kindern als Anknüpfungspunkt im Familienrecht ermittelt werden musste. Im Rahmen der Erbrechtsverordnung werden daher eigene Maßstäbe für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts von Erwachsenen herausgebildet werden müssen. Generell soll der gewöhnliche Aufenthalt auch im europäischen Recht den Lebensmittelpunkt einer Person bezeichnen. Dabei werden neben den objektiven auch subjektive Elemente berücksichtigt werden müssen.
Im Bereich des Erbrechts ist naturgemäß eine höhere Stabilität des Anknüpfungspunkts erstrebenswert als z. B. im Bereich des Minderjährigenschutzrechts oder im Bereich des Ehe- und Familienrechts. Da man sich in Brüssel anders als im Entwurf der Haager Erbrechtskonvention aber nicht entschließen konnte, den gewöhnlichen Aufenthalt um weitere Faktoren zu verstärken (wie z. B. die Staatsangehörigkeit oder eine bestimmte Mindestdauer des Aufenthalts im Aufenthaltsstaat), kann man die erforderliche Stabilität nur dadurch erreichen, dass man den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts für die Zwecke der Er...