Einführung
Der zweite Teil des Beitrags setzt die begonnene kritische Auseinandersetzung mit den Folgeproblemen der Erbrechtsreform fort (siehe ZErb 2011, S. 289–294). Nunmehr werden die ungelösten Rechtsprobleme der neuen Pflichtteilsentziehungsgründe des § 2333 Abs. 1 BGB sowie die geänderten Anforderungen an deren Geltendmachung (§ 2336 BGB) diskutiert.
I. Die überarbeiteten Pflichtteilsentziehungsgründe
1. Die dem Erblasser "nahe stehende Person" iSv § 2333 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB
a) Anpassung an gewandelte Familienstrukturen
Weitreichende Neuerungen hat das Gesetz zur Reform des Erb- und Verjährungsrechts für das Instrument der Pflichtteilsentziehung (§§ 2333, 2336 BGB) gebracht. Mit dem Ziel, die Testierfreiheit des Erblassers zu stärken, sollten die Gründe zur Entziehung des Pflichtteils vor dem Hintergrund der verfassungsgerichtlichen Vorgaben an die gesellschaftlichen Veränderungen angepasst werden. Um den gewandelten familiären Strukturen gerecht zu werden, wurde der Kreis der vom Fehlverhalten in § 2333 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB betroffenen Personen durch die Reform erweitert. Neben dem Erblasser, seinem Ehegatten oder gleichgeschlechtlichen Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft (vgl. § 10 Abs. 6 S. 2 LPartG) und seinen Abkömmlingen wird seither gleichfalls eine dem "Erblasser ähnlich nahe stehende Person" erfasst. Damit ist es zu einer partiell dogmatischen und funktionalen Neuordnung des Pflichtteilsentziehungsrechts gekommen. Neben den bislang allein bedeutsamen Verwandtschaftsverhältnissen des Erblassers spielen nunmehr auch tatsächlich gelebte Nähebeziehungen des Erblassers zu Dritten eine Rolle, die es stets für den konkreten Einzelfall festzustellen gilt, für die das Gesetz aber keinerlei nähere Konkretisierung bereithält.
b) Kennzeichnung der "nahe stehenden Person"
Nach dem Gesetzeswortlaut müssen die in den Schutzbereich des Pflichtteilsentziehungsrechts einbezogenen Personen dem Erblasser ähnlich wie ein Ehegatte oder ein Abkömmling nahe gestanden haben. Ausweislich der Gesetzesmaterialien sollen mit dem unbestimmten Rechtsbegriff solche Personen erfasst werden, deren Verletzung den Erblasser in gleicher Weise trifft wie ein Angriff gegen seinen schon zuvor einbezogenen Ehegatten oder seine Abkömmlinge. Daher ist erforderlich, dass zwischen der "nahe stehenden Person" und dem Erblasser ein ähnliches Verhältnis wie zwischen Ehegatten oder Eltern und ihren Abkömmlingen besteht, maW eine der Partnerschaft oder Nachkommenschaft vergleichbare Verbindung. Damit muss die gelebte Nähebeziehung in ihrer Intensität einer Ehe oder einem Verwandtschaftsverhältnis entsprechen, was ein auf gewisse Dauer angelegtes, auf Gegenseitigkeit beruhendes enges zwischenmenschliches Verhältnis voraussetzt, da nur in diesem Falle vergleichbare wechselseitige Solidaritätsgefühle entstehen.
Präzisiert werden diese Anforderungen durch den Sinn und Zweck der Reform. Mit der Erweiterung des Kreises der durch das Pflichtteilsentziehungsrecht geschützten Personen sollte den gewandelten familiären Strukturen Rechnung getragen werden. Damit darf es sich bei der zwischen dem Erblasser und dem Betroffenen bestehenden Beziehung aber nicht um eine traditionelle Form des familiären Zusammenlebens handeln. Sie muss vielmehr Ausdruck der gesellschaftlichen Veränderungen sein.
Ob sich neben diesen Merkmalen noch weitere Kriterien aufstellen lassen, die die "nahe stehende Person" abstrakt kennzeichnen, wird zu bezweifeln sein. So ergeben sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Gesetzesbegründung hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass eine "nahe stehende Person" zwingend im gemeinsamen Haushalt des Erblassers leben muss. Ein solches Erfordernis lässt sich auch nicht aus einem Vergleich mit den gleichfalls geschützten Personen – Ehegatten und Abkömmlinge des Erblassers – entnehmen. Ganz im Gegenteil sind de lege lata (erwachsene) Kinder des Erblassers auch dann geschützt, wenn sie nicht mehr im Haushalt des Erblassers wohnen. Umgekehrt kann sich aus einem gemeinsamen Hausstand aber ein Indiz für ein Näheverhältnis iSv § 2333 Abs. 1 Nr. 1 und 2 BGB ergeben.
Der Betroffene muss dem Erblasser zum Zeitpunkt des Fehlverhaltens des Pflichtteilsberechtigten ähnlich nahe gestanden haben, damit dieser zur Entziehung des Pflichtteils berechtigt ist. An dieser Entziehungsmöglichkeit ändert sich auch dann nichts, wenn die Beziehung später beendet wird. Im Gegenzug ist dem Erblasser eine Pflichtteilsentziehung verwehrt, wenn er erst im Anschluss an die Tathandlung des Pflichtteilsberechtigten ein Näheverhältnis zum Opfer begründet.