Höchstrichterlich hat der Bundesgerichtshof 2011 ein klares Machtwort gesprochen. Auf der Grundlage des nach wie vor unverändert geltenden Sozialrechts kann das Ergebnis kaum Erstaunen auslösen, Behinderten die gleichen Instrumente an die Hand zu geben, die Nichtbehinderte selbstverständlich benutzen dürfen. Von Erläuterungsinteresse ist nicht so sehr das – mittlerweile bekannte – Resultat, sondern – für die zu prognostizierende Behandlung weiterer Gestaltungswege – mehr, welche einfach-rechtlichen bis zu verfassungsrechtlichen Gründe der Senat dafür herangezogen hat.
Seine Ausgangsposition, dass der auch beim Verzicht im Zentrum stehende Sittenwidrigkeitsvorwurf nach den Wertungen des Behindertentestaments zu behandeln ist, lässt sich klarer als im folgenden Originalton kaum darstellen:
Zitat
"Mit diesem Verzicht macht die Leistungsbezieherin von ihrem Recht aus § 2346 Abs. 2 BGB Gebrauch, durch Rechtsgeschäft mit der Erblasserin, die Entstehung des Pflichtteilsanspruchs auszuschließen. Nach dem Grundsatz der PrIV atautonomie (Art. 2 Abs. 1 GG) sind Rechtsgeschäfte, die das bürgerliche Recht vorsieht, wirksam, solange sie nicht gegen entgegenstehende Gesetze verstoßen (§ 134 BGB). (…) "
Grundsätzlich können demzufolge alle im Erbrecht vom Gesetz bereitgestellten Gestaltungsinstrumente einschließlich ihrer Kombinationsmöglichkeiten ausgeschöpft werden.
Daher ist auch in Fällen etwaiger nachteiliger Wirkungen zulasten der Allgemeinheit nicht die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts durch besondere Gründe im Einzelfall zu rechtfertigen, sondern positiv festzustellen und zu begründen, gegen welche übergeordneten Wertungen das Rechtsgeschäft verstößt und deswegen seine Wirksamkeit nicht hingenommen werden kann. Dem entspricht beim ,Behindertentestament‘, dass nicht etwa die Testierfreiheit einen sonst gegebenen Sittenverstoß ausschließt, sondern der von der Testierfreiheit getragenen letztwilligen Verfügung wegen der von den Eltern über ihren Tod hinaus getroffenen Fürsorge für das behinderte Kind die sittliche Anerkennung gebührt.“
Auf dieser Grundlage waren dann vor Erteilung des Wirksamkeitstestats im Gefolge der Revisionsangriffe vier Hauptprüfungsstationen zu durchlaufen:
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Vertrag zulasten Dritter (1) |
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Sozialrechtlicher Nachranggrundsatz (2) |
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Unterhaltsfunktion des Pflichtteilsrechts (3) |
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Untätigkeit des Gesetzgebers (4) |
(1) Vertrag zulasten Dritter
Beim Pflichtteilsverzicht eines Leistungsbeziehers handelt es sich schon deswegen nicht um einen unzulässigen "Vertrag zulasten Dritter", weil dem Sozialversicherungsträger durch den Verzicht keinerlei vertragliche Pflichten auferlegt werden. Der Nachteil der öffentlichen Hand entsteht vielmehr nur als Reflex durch die Aufrechterhaltung der Bedürftigkeit. Für Dritte lediglich mittelbar durch ein Rechtsgeschäft verursachte nachteilige Wirkungen sind von diesen jedoch grundsätzlich hinzunehmen und berühren die Wirksamkeit des Geschäfts im Regelfall nicht. Vielmehr bedarf es gesetzlicher Spezialregelungen, wenn die Nachteile des Dritten im konkreten Fall beseitigt oder ausgeglichen werden sollen (z. B. durch Schadensersatz-, Bereicherungs- oder Wertausgleichsansprüche; Möglichkeiten einer Anfechtung; Wegfall oder Beschränkung von Ansprüchen gegen den Dritten etc.).
(2) Nachranggrundsatz
(a) Höchstrichterliche Rechtsprechung
Der Nachranggrundsatz im Sozialhilferecht, nach dem jeder nur insoweit staatliche Hilfe beanspruchen kann, als er die betreffenden Aufwendungen (insbesondere den Lebensunterhalt) nicht durch den Einsatz eigener Einkünfte und eigenen Vermögens bestreiten kann, gerät mit zivilrechtlichen Gestaltungen in Konflikt, die Bedürftigkeit herbeiführen oder perpetuieren. Dieser Konflikt führt allerdings nach der genannten einschlägigen Rechtsprechung der verschiedenen Senate des Bundesgerichtshofs allein nie zur Unwirksamkeit solcher Rechtsgestaltungen.
Die vom Senat zu den Behindertentestamenten herausgearbeitete Durchbrechungen der Subsidiarität sozialer Leistungen zugunsten eines – endgültigen – Familienlastenausgleichs – das sind insbesondere
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die differenzierte Ausgestaltung für die jeweiligen Leistungsarten, |
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die Respektierung von Schonvermögen, |
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der begrenzte Einsatz eigenen Vermögens auf das Zumutbare und |
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die beschränkte Überleitung von Unterhaltsansprüchen – |
nehmen dem Nachrang damals wie heute seine Prägekraft. Eine allgemeine Rechtsüberzeugung, dass Eltern ihrem behinderten Kind etwas – wie den Pflichtteil – hinterlassen müssten oder dieses so etwas zu beanspruchen hätte, damit es nicht der Allgemeinheit zur Last fällt, gibt es ohnehin nicht.
(b) Sozialrechtliches Regelungssystem
Hinzu kommt, dass der Verzicht auf eine Erwerbsquelle nichts an der Verpflichtung ändert, vorhandenes Vermögen und vorhandene Einkünfte einzusetzen. Führt jemand die eigene...