Fall 13 (Kürzungsrecht, § 2318 Abs. 1 BGB; Martin‘sche Formel): Der verwitwete Erblasser E hat seinen Sohn S zum Alleinerben eingesetzt, den weiteren Sohn Y hat E enterbt. Zugunsten von V ist ein Geldvermächtnis in Höhe von 100.000 EUR ausgebracht. Der Nachlasswert beträgt insgesamt 200.000 EUR.
Müsste S neben dem Pflichtteil zugunsten seines Bruders Y (in Höhe von 50.000 EUR, Quote 1/4) auch das Vermächtnis erfüllen, verblieben S selbst nur 50.000 EUR. Könnte S vor der Berechnung des Pflichtteils das Vermächtnis abziehen, erhielte Y nur 25.000 EUR. Dies würde sein Pflichtteilsrecht aushöhlen. Deshalb werden Vermächtnisse vor der Berechnung des Pflichtteils nicht als Nachlassverbindlichkeiten abgezogen, § 2311 BGB, vgl. auch §§ 1991 Abs. 4 BGB, 327 InsO. Stattdessen kann S im Innenverhältnis zu V das Vermächtnis nach § 2318 BGB kürzen. Hierdurch wird erreicht, dass die Pflichtteilslast von S und V gemäß ihrer wirtschaftlichen Beteiligung am Nachlass getragen wird. S kann so das Vermächtnis von V um 25.000 EUR kürzen. Damit haben dann (im Innenverhältnis zueinander) S und V den Pflichtteil zu gleichen Teilen getragen. Zweck der Norm ist die Aufteilung der Pflichtteilslast auf Erben und Vermächtnisnehmer im Verhältnis ihrer wirtschaftlichen Beteiligung am Nachlass. Im Prozess mit dem Pflichtteilsberechtigten ist eine Streitverkündung an den Vermächtnisnehmer zu empfehlen, um die Bindungswirkung der Feststellungen auf diesen zu erstrecken, §§ 74 Abs. 3, 68 ZPO.
Bei komplexeren Rechnungen bietet sich die Verwendung folgender Formel an:
K (Kürzungsbetrag) = P (Pflichtteilslast) x V (Vermächtnis) : U.N. (ungekürzter Nachlass)
Gesetzliche Vermächtnisse (§§ 1969, 1932 BGB) sind vom Kürzungsrecht ausgenommen. Gleiches gilt für den Unterhaltsanspruch nach § 1963 BGB und den Ausbildungsanspruch nach § 1371 Abs. 4 BGB.
Fall 14 (Eingeschränktes Kürzungsrecht, § 2318 Abs. 2 BGB; VN pflichtteilsberechtigt): E hinterlässt die Söhne A und B, wobei A und der Dritte D je ein Vermächtnis in Höhe von 2.000 EUR erhalten. Alleinerbe wird X (Nachlasswert 8.000 EUR). B verlangt von X den Pflichtteil. Wer trägt die Last?
Gemäß § 2318 Abs. 2 BGB ist das Vermächtnis zugunsten des Pflichtteilsberechtigten A nicht weiter zu kürzen als sein Pflichtteil reicht (1/4 aus 8.000 EUR = 2.000 EUR). A ist also das volle Vermächtnis auszubezahlen. Der Pflichtteilsanspruch von B (gegenüber X) beträgt ebenfalls 2.000 EUR. Die Aufteilung auf Erben X und Vermächtnisnehmer D erfolgt nach § 2318 Abs. 1 BGB im Verhältnis 2:1 (4.000 EUR zu 2.000 EUR). X hat 2/3 aus 2.000 EUR (= 1.333,33 EUR) zu tragen und kann das Vermächtnis zugunsten des D um 666,66 EUR kürzen. Der Zahlbetrag auf das Vermächtnis beträgt 1.333,33 EUR. Bei der auf § 2318 Abs. 2 BGB folgenden Kürzungsberechnung nach § 2318 Abs. 1 BGB ist der pflichtteilsberechtigte Vermächtnisnehmer (hier A) unberücksichtigt zu lassen. Dieser wird gewissermaßen aufgrund seines vorrangigen Pflichtteils vorab bedient und bei der anschließenden Aufteilung des weiteren Vermächtnisses außen vor gelassen.
K (Kürzungsbetrag) = P (Pflichtteilslast) x V (Vermächtnis): U.N. (ungekürzter Nachlass)
K (D) = 2.000 x 2.000 : 6.000 = 666,67
Variante (Eingeschränktes Kürzungsrecht, § 2318 Abs. 2 BGB; VN pflichtteilsberechtigt):
Abwandlung: A erhält als Vermächtnis 2.500 EUR.
Jetzt erfasst die Einschränkung von § 2318 Abs. 2 BGB das Vermächtnis zugunsten von A nicht mehr vollständig, sondern nur in Höhe von 2.000 EUR (= Pflichtteil A). In übersteigender Höhe von 500 EUR muss sich A an dem Pflichtteil seines Bruders B verhältnismäßig beteiligen. Die Aufteilung zwischen Erbe X (3.500 EUR) und den Vermächtnisnehmern A (500 EUR) und D (2.000 EUR) erfolgt gemäß ihrer Beteiligungsquote: X (7/12); A (1/12); B (4/12). Wieder muss B sich mit (4/12 aus 2.000 EUR =) 666,67 EUR an dem Vermächtnis von D beteiligen, was durch Kürzung realisiert wird. A muss 1/12 aus 2.000 EUR (= 166,67 EUR) und X den Rest (7/12 aus 2.000 EUR = 1.166,67 EUR) tragen.
K (Kürzungsbetrag) = P (Pflichtteilslast) x V (Vermächtnis) : U.N. (ungekürzter Nachlass)
K (A) = 2.000 x 500 : 6.000 = 166,67
K (D) = 2.000 x 2.000 : 6.000 = 666,67
Anteil X = 1.166,67
Kontrolle: 2.000
Fall 15 (Erweitertes Kürzungsrecht, § 2318 Abs. 3 BGB; Erbe neben Drittem pflichtteilsberechtigt): E hinterlässt zwei Söhne S und A. A wird enterbt. Der Nachlasswert beträgt 30.000 EUR. Zugunsten von D ist ein Vermächtnis in Höhe von 22.000 EUR verfügt. A verlangt von S den Pflichtteil.
Zweck von § 2318 BGB ist nur die angemessene Aufteilung der Pflichtteilslast auf Erben und Vermächtnisnehmer. Die Norm dient keinem Schutz des Pflichtteils. Dies regelt § 2306 BGB. Diesen hat der mit einem Vermächtnis belastete potenziell pflichtteilsberechtigte Erbe (seit der Reform im Jahr 2010 unabhängig von seiner Erbquote) durch Ausschlagung sicherzustellen. Für den Fall, dass der Erbe nicht ausschlägt, regelt § 2318 Abs. 1, Abs. 3 BGB eine erweiterte Kürzung des Vermächtnisses, ohne den Pflichtteil stets in vo...