Es steht sicherlich außer Frage, dass der Gesetzgeber mit der Möglichkeit wechselbezüglicher Verfügungen ein wichtiges Gestaltungsmittel geschaffen hat. Die sehr ausführlichen Diskussionen der 1. und 2. Kommission belegen, wie schwer sich der historische Gesetzgeber mit dem gemeinschaftlichen Testament und wechselbezüglichen Verfügungen getan hat (MatK ErbR/Horn,§ 2265 BGB Rn 3 ff.; § 2270 BGB Rn 1 ff.). Die kontinuierlichen obergerichtlichen Entscheidungen dokumentieren, wie streitanfällig und unklar wechselbezügliche Verfügungen sind. Ehegatten dürfte es nur in den seltensten Fällen bewusst sein, welche maximale Bindung der längerlebende Ehegatte bei dem am "berühmten" Küchentisch erstellten Berliner Testament eingeht. Ihnen wird oft die gesetzliche Vermutungsregel des § 2270 Abs. 2 BGB "zum Verhängnis“."

Da mangels Anhaltspunkte und dem Wortlaut des Testamentes die individuelle Auslegung zweifelbehaftet ist, kommt die gesetzliche Auslegungsregel mit oft überraschendem Ergebnis zum Zuge.

Für die Konstellation, die von dem KG zu entscheiden war, hält das Gesetz indes keine Auslegungsregel parat. Die zweite Alternative von § 2270 Abs. 2 BGB erfordert nämlich, dass sich die Ehegatten im ersten Erbfall gegenseitig bedacht und erst für den zweiten Erbfall eine mit dem Erstversterbenden (!) verwandte oder eben sonst nahestehende Person begünstigt haben. Hier geht es allerdings darum, dass sich die Ehegatten in dem gemeinschaftlichen Testament eben nicht gegenseitig bedacht, sondern für ihre Erbfälle jeweils direkt das gemeinsame Kind zum Erben berufen haben. Zum "Fall" für die (Ober-)Gerichte werden die Testamente regelmäßig dann, wenn der längerlebende Ehegatte – wie hier – später abweichend verfügt.

In diesen Fällen muss durch einfache = erläuternde Auslegung festgestellt werden, ob die Erbeinsetzung mit wechselbezüglicher oder eben mit einseitiger Wirkung verfügt ist. Am Rande darf noch bemerkt werden, dass ein gemeinschaftliches Testament nicht pauschal wechselbezüglich sein kann, sondern lediglich die hierin enthaltenen einzelnen Verfügungen. Die Frage der Wechselbezüglichkeit muss jeweils festgestellt werden.

Das bedeutet, dass das Gericht nach "freier Überzeugung" zu entscheiden hat, ob eine Verfügung wechselbezüglich oder schlicht einseitig ist (§ 37 Abs. 1 FamFG, § 286 ZPO). Für diese richterliche Entscheidung hat die Rechtsprechung tatsächliche Vermutungen entwickelt. Diese gehen von hohen Wahrscheinlichkeiten eines gewissen Ablaufes aus, die sich aus der Lebenserfahrung ergeben würden (Horn/Kroiß/Horn, Testamentsauslegung-HdB, § 20 Rn 36). Eine tatsächliche Vermutung kann bei freier Beweiswürdigung weiteren Beweis überflüssig machen bzw. zumindest neben anderen Umständen gewürdigt werden (Nieder/Kössinger/Kössinger, Testamentsgestaltung-HdB, § 8 Rn 57). Alle tatsächlichen Vermutungen lassen den Gegenbeweis zu, welcher dahin geht, dass die vermutete Tatsache nicht zutrifft (Nieder/Kössinger/Kössinger Testamentsgestaltung-HdB, § 8 Rn 57).

Das KG hat hier eine tatsächliche Vermutung erneuert, die ursprünglich vom BayObLG aufgestellt wurde (BayObLG, NJWE-FER 1997, 13, 14; vgl. OLG Hamm, DNotZ 2001, 395); so auch LG München I (ZEV 2008, 537, 538): Die Ehegatten hatten sich zwar gegenseitig zu Alleinerben und ihre gemeinsame Tochter zur Schlusserbin berufen. Durch die Scheidung entfiel nach dem LG München I die ursprüngliche Wechselbezüglichkeit der Schlusserbeinsetzung. Die Schlusserbeinsetzung war nach Anwendung dieser tatsächlichen Vermutung nicht mehr als wechselbezüglich festzustellen.

Dr. Claus-Henrik Horn, RA und FA ErbR, Düsseldorf

ZErb 12/2021, S. 475 - 478

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