Vor diesem Hintergrund verwundert es, mit welcher Selbstverständlichkeit der BGH die durch das BVerfG postulierte Mindestbeteiligung der Kinder am Nachlass zum Inhalt des deutschen ordre public und die Anwendung des deutschen Pflichtteilsrechts (anscheinend) für vollumfänglich anwendbar erklärt.
Jedenfalls für den entschiedenen Fall, in dem die konkrete Anwendung englischen Rechts gar keine Partizipation des nach deutschem Recht pflichtteilsberechtigten Kindes ergab, wird man einen ordre public Verstoß im Ergebnis annehmen müssen. Wollte man dies anders sehen, würde der verfassungsrechtliche Kerngehalt des Pflichtteilsrechts als Ausfluss der Erbrechtsgarantie sowie des Familienschutzes bei entsprechenden Auslandssachverhalten völlig ausgehöhlt. Eine so weitreichende Schlechterstellung des Pflichtteilsanspruchsinhabers gegenüber demjenigen bei einem rein innerdeutschen Sachverhalt scheint vor dem Hintergrund, dass im Rahmen der ordre public Prüfung stets auch ein hinreichend starker Inlandsbezug zu fordern ist, nicht angebracht.
Dieses Ergebnis kann auch nicht vor dem Hintergrund verwundern, dass im Ausland mitunter stärkere Noterben- und Pflichtteilsrechte nicht durchgedrungen sind, da hier gerade keine verfassungsrechtliche Absicherung vorlag, was der österreichische OGH (dieser in ausdrücklicher Abgrenzung zum deutschen Recht) sowie der italienische Kassationsgerichtshof auch ausdrücklich hervorhoben. Nichts anderes wird für das französische Recht gelten, auch wenn der fehlende Verfassungsrang in den entsprechenden Entscheidungen nicht ausdrücklich herausgestellt wurde. Die Außenseiterposition Deutschlands rechtfertigt sich durch seine verfassungsrechtlich besondere Lage.
3. Ordre public Verstoß in anderen Fällen
Keine Zustimmung verdient die Entscheidung des BGH dagegen, insoweit der Eindruck erweckt wird, dass jedes Zurückbleiben der einschlägigen Auslandsbestimmungen hinter dem Vorbild des deutschen Pflichtteilsrechts einen ordre public Verstoß begründe, dem durch volle Anwendung des deutschen Pflichtteilsrechts abzuhelfen ist.
Das BVerfG begründet die gebotene Mindestbeteiligung von Kindern am Nachlass gerade im Sinne einer verfassungsrechtlichen Institutsgarantie, deren konkrete Ausfüllung mit einem weiten Ermessensspielraum dem Gesetzgeber obliegt, was im Grundsatz auch der BGH zur Kenntnis nimmt. Hat schon der deutsche Gesetzgeber einen weiten Ermessensspielraum, muss dies auch vor der gebotenen engen Auslegung des ordre public Vorbehalts (siehe vorstehend Nr. 1) erst recht für Vorschriften des Auslandsgesetzgebers gelten – ein ordre public Verstoß ist nur dann anzunehmen, wenn im konkreten Einzelfall das nach dem deutschen ordre public zwingend gebotene Mindestmaß unterschritten wird. Dieses ist mit der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Pflichtteilsrechts nicht deckungsgleich und wäre im Einzelfall zu bestimmen. Hierdurch ergibt sich dann gleichzeitig auch die Rechtsfolge eines ordre public Verstoßes: Die bestehende Lücke ist so auszufüllen, dass ein gerade noch dem ordre public entsprechendes Ergebnis erzielt wird.
Zur quantitativen Untergrenze hatte der BGH sich nicht zu äußern, da jedenfalls das völlige Fehlen eines Pflichtteilsanspruchs einen ordre public Verstoß begründet und auf Ebene des Auskunfts- und Wertermittlungsanspruchs nach § 2314 Abs. 1 BGB über den Umfang der Partizipation am Nachlass nicht zu entscheiden war. Gleichwohl wird durch den für notwendig befundenen und nicht näher eingeschränkten Rückgriff auf das deutsche Pflichtteilsrecht der Eindruck erweckt, maßgeblich für den ordre public Verstoß sowie die Lückenfüllung sei das deutsche Pflichtteilsrecht in vollem Umfang, d.h. einschließlich der entsprechenden vollen Pflichtteilsquoten. Dies ist abzulehnen. Sieht die ausländische Rechtsordnung eine geringere Beteiligung am Nachlass vor, ist dies nur insoweit schädlich, als das für den deutschen ordre public zwingend erforderliche Mindestmaß unterschritten würde.
Ebenso abzulehnen ist die pauschale Aussage des BGH, dass die Inheritance Provision 1975 oder ähnliche Ersatzmechanismen generell nicht geeignet seien, den fehlenden Pflichtteil eines Kindes zu kompensieren. Im Rahmen des Art. 35 EuErbVO kommt es richtigerweise darauf an, dass ein im konkreten Einzelfall mit dem deutschen ordre public unvereinbares Ergebnis besteht. Ein solches begründet der BGH in seiner Entscheidung auch korrekt damit, dass dem Anspruchsteller nach englischen Recht schon aufgrund des fehlenden domiciles in England oder Wales keine Ansprüche zukamen.