Der BGH hat mit Urt. v. 29.6.2022 entschieden, dass die Anwendung des englischen Erbrechts auf den Nachlass eines in Deutschland lebenden Erblassers aufgrund einer Rechtswahl in der letztwilligen Verfügung insoweit mit dem deutschen ordre public unvereinbar ist, als hierdurch Kindern des Erblassers ihr nach BVerfG, Beschl. v. 19.4.2005 – 1 BvR 1644/00 – grundsätzlich unentziehbarer und bedarfsunabhängiger Pflichtteilsanspruch entzogen wird und ein hinreichender Inlandsbezug besteht. Hiermit entscheidet der BGH anders, als dies eine Reihe höchstrichterlicher Entscheidungen anderer europäischer Jurisdiktionen getan haben, die die ordre public Relevanz des eigenen Pflichtteilsrechts gerade abgelehnt haben. Die Entscheidung des BGH beendet die langjährigen Diskussionen in Literatur und Rechtsprechung darüber, ob fehlende Pflichtteilsansprüche überhaupt einen Verstoß gegen den deutschen ordre public begründen können. Gleichzeitig werden durch die Entscheidung aber eine ganze Reihe von Unsicherheiten und Folgeprobleme nicht behoben bzw. erst geschaffen, mit denen in der Praxis umzugehen ist.
II. Die Entscheidung des BGH im Einzelnen
1. Sachverhalt und Verfahrenslauf
Der Kläger ist der Adoptivsohn des Erblassers und macht gegen dessen Nachlass Auskunfts- und Wertermittlungsansprüche nach § 2314 Abs. 1 BGB unter Berufung auf sein (deutsches) Pflichtteilsrecht geltend. Der Erblasser besaß die britische Staatsbürgerschaft, lebte aber seit über fünfzig Jahren in Deutschland und unterhielt seit mehr als dreißig Jahren keine Verbindung mehr nach Großbritannien. Mit notariellem Testament vom 13.3.2015 wählte der Erblasser für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen englisches Recht, setzte die Beklagte zu 1 (eine gemeinnützige GmbH) als alleinige Erbin ein und bestimmte die Beklagte zu 2 zum executor.
Das LG Köln hatte die Klage als unbegründet abgewiesen. Zwar sei die Mindestbeteiligung von Kindern des Erblassers am Nachlass nach der Rechtsprechung des BVerfG grundrechtlich geschützt und damit geeignet, einen ordre public Verstoß zu begründen. In dem fehlenden Pflichtteil eines volljährigen, wirtschaftlich selbstständigen Abkömmlings nach dem zulässig gewählten englischen Recht läge aber kein so krasser Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung, dass von einer offensichtlichen Unvereinbarkeit i.S.d. Art. 35 EuErbVO auszugehen ist.
Vor dem OLG Köln als Berufungsinstanz drang der Kläger mit seinem Auskunftsbegehren dagegen durch. Zwar habe der Erblasser zulässigerweise englisches Recht wählen können, das einen dem deutschen Recht vergleichbaren Pflichtteilsanspruch nicht kennt. Das englische Recht sei aber in Hinblick auf die Grundsatzentscheidung des BVerfG zur Bedeutung des Pflichtteilsrechts von Kindern insoweit mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar. Dem Kläger stünden daher Pflichtteilsansprüche sowie die zugehörigen Auskunftsansprüche zu, die allerdings nur gegenüber der Beklagten zu 1 als Alleinerbin geltend gemacht werden könnten. In Hinblick auf die Beklagte zu 2 wurde die Klage abgewiesen.
Die Entscheidung des BGH vom 29.4.2022 bestätigt die vorangegangene Entscheidung des OLG Köln nun uneingeschränkt.
2. Urteilsbegründung
Der Senat bejahte einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagte zu 1 aus § 2314 Abs. 1 BGB.
a) Grundsätzlich zulässige Rechtswahl
Mit den Vorinstanzen bejahte der BGH die Zulässigkeit der Rechtswahl nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO. Das Testament des Erblassers stamme zwar vom 13.3.2015, während die EuErbVO erst seit dem 17.8.2015 gilt. Da der Erblasser aber im Jahr 2018 verstorben war, gelte nach Art. 83 Abs. 4 EuErbVO (gemeint war wohl eher Art. 83 Abs. 2 EuErbVO) dasjenige Recht, dessen Anwendung der Erblasser vor dem Stichtag im Rahmen einer Verfügung von Todes wegen nach dem nach Art. 22 EuErbVO wählbaren Recht angeordnet habe.
b) Das Pflichtteilsrecht als Teil des deutschen ordre public
Das anwendbare englische Erbrecht sei aber im vorliegenden Fall mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar i.S.d. Art. 35 EuErbVO. Das Pflichtteilsrecht sei als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19.4.2005 klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter im Sinne einer grundsätzlich unentziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder ...