1. Sachverhalt und Verfahrenslauf
Der Kläger ist der Adoptivsohn des Erblassers und macht gegen dessen Nachlass Auskunfts- und Wertermittlungsansprüche nach § 2314 Abs. 1 BGB unter Berufung auf sein (deutsches) Pflichtteilsrecht geltend. Der Erblasser besaß die britische Staatsbürgerschaft, lebte aber seit über fünfzig Jahren in Deutschland und unterhielt seit mehr als dreißig Jahren keine Verbindung mehr nach Großbritannien. Mit notariellem Testament vom 13.3.2015 wählte der Erblasser für seine Rechtsnachfolge von Todes wegen englisches Recht, setzte die Beklagte zu 1 (eine gemeinnützige GmbH) als alleinige Erbin ein und bestimmte die Beklagte zu 2 zum executor.
Das LG Köln hatte die Klage als unbegründet abgewiesen. Zwar sei die Mindestbeteiligung von Kindern des Erblassers am Nachlass nach der Rechtsprechung des BVerfG grundrechtlich geschützt und damit geeignet, einen ordre public Verstoß zu begründen. In dem fehlenden Pflichtteil eines volljährigen, wirtschaftlich selbstständigen Abkömmlings nach dem zulässig gewählten englischen Recht läge aber kein so krasser Widerspruch zur deutschen Rechtsordnung, dass von einer offensichtlichen Unvereinbarkeit i.S.d. Art. 35 EuErbVO auszugehen ist.
Vor dem OLG Köln als Berufungsinstanz drang der Kläger mit seinem Auskunftsbegehren dagegen durch. Zwar habe der Erblasser zulässigerweise englisches Recht wählen können, das einen dem deutschen Recht vergleichbaren Pflichtteilsanspruch nicht kennt. Das englische Recht sei aber in Hinblick auf die Grundsatzentscheidung des BVerfG zur Bedeutung des Pflichtteilsrechts von Kindern insoweit mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar. Dem Kläger stünden daher Pflichtteilsansprüche sowie die zugehörigen Auskunftsansprüche zu, die allerdings nur gegenüber der Beklagten zu 1 als Alleinerbin geltend gemacht werden könnten. In Hinblick auf die Beklagte zu 2 wurde die Klage abgewiesen.
Die Entscheidung des BGH vom 29.4.2022 bestätigt die vorangegangene Entscheidung des OLG Köln nun uneingeschränkt.
2. Urteilsbegründung
Der Senat bejahte einen Anspruch des Klägers gegen die Beklagte zu 1 aus § 2314 Abs. 1 BGB.
a) Grundsätzlich zulässige Rechtswahl
Mit den Vorinstanzen bejahte der BGH die Zulässigkeit der Rechtswahl nach Art. 22 Abs. 1 EuErbVO. Das Testament des Erblassers stamme zwar vom 13.3.2015, während die EuErbVO erst seit dem 17.8.2015 gilt. Da der Erblasser aber im Jahr 2018 verstorben war, gelte nach Art. 83 Abs. 4 EuErbVO (gemeint war wohl eher Art. 83 Abs. 2 EuErbVO) dasjenige Recht, dessen Anwendung der Erblasser vor dem Stichtag im Rahmen einer Verfügung von Todes wegen nach dem nach Art. 22 EuErbVO wählbaren Recht angeordnet habe.
b) Das Pflichtteilsrecht als Teil des deutschen ordre public
Das anwendbare englische Erbrecht sei aber im vorliegenden Fall mit dem deutschen ordre public offensichtlich unvereinbar i.S.d. Art. 35 EuErbVO. Das Pflichtteilsrecht sei als Institutionsgarantie dem Bestand des deutschen ordre public zuzurechnen. Das BVerfG hat in seiner Grundsatzentscheidung vom 19.4.2005 klargestellt, dass dem Pflichtteilsrecht der Kinder des Erblassers unter Verweis auf die Erbrechtsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter im Sinne einer grundsätzlich unentziehbaren und bedarfsunabhängigen wirtschaftlichen Mindestbeteiligung der Kinder des Erblassers an dessen Nachlass zukommt. Dieses Pflichtteilsrecht schützt die durch die Abstammung begründete familienrechtliche Bindung über den Tod hinaus und beschränkt insoweit die Testierfreiheit. Das Pflichtteilsrecht der Kinder schützt die durch die Abstammung begründete familienrechtliche Bindung über den Tod hinaus und beschränkt insoweit die Testierfreiheit.
c) Fehlen adäquater Pflichtteilsrechte nach englischem Recht
Das englische Recht bleibt nach Auffassung des BGH in seiner gesetzlichen und konkreten Ausgestaltung hinter diesen Anforderungen zurück. Nach den Regelungen des einschlägigen Inheritance (Provision for Family und Dependants) Act 1975 ("Inheritance Provision 1975") existiert kein quotenmäßiges Pflichtteils- oder Noterbrecht, sondern allenfalls eine bedarfsabhängige und im richterlichen Ermessen stehende finanzielle Beteiligung am Nachlass, die im konkreten Fall aber schon daran scheitere, dass das letzte domicile des Erblassers nicht, wie für den Anspruch erforderlich, in England oder Wales lag. Hierüber hinaus seien die Regelungen der Inheritance Provision 1975 aber auch in Hinblick darauf, dass sie im gerichtlichen Ermessen stünden und von zahlreichen Faktoren des Einzelfalls abhingen, mit den Vorgaben des BVerfG an den Pflichtteil nicht vereinbar.
d) Kein Widerspruch zu den Vorgaben der EuErbVO
Dies stünde auch im Einklang mit den Vorgaben der EuErbVO. Das Nebeneinander von Art. 35 EuErbVO und Art. 22...