1. Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur
Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein nach deutscher Vorstellung inadäquates ausländisches Pflichtteilsrecht im Rahmen des ordre public korrigiert werden kann, ist bislang stark umstritten.
Die ältere Rechtsprechung bis zur Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 ging davon aus, dass das Fehlen eines Pflichtteilsanspruchs nach dem anwendbaren ausländischen Recht nicht geeignet ist, einen ordre public Verstoß zu begründen. Eine Reaktion auf die Entscheidung des BVerfG zeichnete sich schon mit der Entscheidung des KG vom 26.2.2008 – 1 W 59/07 ab, das die ältere Rechtsprechung bereits als überholt und einen ordre public Verstoß als möglich sah, eine Entscheidung hierüber aber noch offen lassen konnte.
In der Literatur blieb die Behandlung von Pflichtteilsrechten im Rahmen des ordre public auch nach der Entscheidung des BVerfG vom 19.4.2005 stark umstritten. Teilweise wird vertreten, dass sich ein Durchschlagen des deutschen Pflichtteilsrechts auf andere Rechtsordnungen über Art. 35 EuErbVO regelmäßig verbiete. Eine andere Ansicht hält den ordre public Verstoß bei Fehlen von Pflichtteilsrechten zwar grundsätzlich für möglich, will ihn aber an weitere Voraussetzungen knüpfen. So soll der Verstoß ausscheiden, wenn ein volljähriger und wirtschaftlich unabhängiger Abkömmling betroffen sei oder der Betreffende der deutschen Sozialhilfe nicht zur Last falle. Die wohl überwiegende Meinung nimmt dagegen unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG einen ordre public Verstoß jedenfalls dann an, wenn einem Abkömmling nach ausländischen Regelungen gar keine Beteiligung am Nachlass zuteilwird.
Die weitere Frage, ob ein fehlender Pflichtteilsanspruch auch durch andere Rechte, insbesondere Noterbenrechte oder Unterhaltsansprüche, kompensiert werden kann und der ordre public Verstoß in Hinblick auf diese entfällt, wird überwiegend bejaht. Abzustellen sei auf das (wirtschaftliche) Ergebnis der Rechtsanwendung.
Mit seiner Entscheidung stellt der BGH fest, dass vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des BVerfG weder die einen ordre public Verstoß verneinende Rechtsprechung und Literatur noch die Literaturstimmen, die den ordre public Verstoß an weitere Voraussetzungen knüpfen wollen, Bestand haben können. Eine Kompensation fehlender Pflichtteilsansprüche durch Ersatzmechanismen wie die englische Inheritance Provision 1975 scheidet nach Ansicht des BGH ebenso aus, da diese als ermessens- und einzelfallabhängige Regelungen den Vorgaben des BVerfG nicht gerecht würden.
2. Meinungsstand in anderen europäischen Jurisdiktionen
Das Urteil des BGH weicht von einer Reihe von Entscheidungen in anderen europäischen Jurisdiktionen ab, die in der pflichtteilsausschließenden Rechtswahl keinen ordre public Verstoß sahen.
a) Österreich
Mit Urt. v. 25.2.2021 verneinte der Oberste Gerichtshof (OGH) einen ordre public Verstoß in einem Fall, in dem die britische Erblasserin durch testamentarische Wahl ihres Heimatrechts Pflichtteilsansprüche ihrer Nachkommen ausgeschlossen hatte. Begründet wurde dies zum einen mit dem geringeren Stellenwert des Pflichtteilsrechts, das – anders als in Deutschland – im Rahmen der Eigentumsgarantie aus Art. 5 StGG auch nicht ausdrücklich genannt wird und einfachgesetzlich differenziert mit Entzugs-, Minderungs- und Stundungsmöglichkeiten ausgestaltet sei. Letztlich weise der konkrete Fall durch die Lage des betroffenen Vermögens in britischen tru...