Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die EuErbVO nach ihrem Erwägungsgrund 6 den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf das Erbrecht erweitern und die nationalen Traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigen soll. Die EuErbVO soll danach den Umgang mit den in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten bereits bestehenden Formen letztwilliger Verfügungen regeln, nicht aber neue Formen schaffen. Die Auslegung der EuErbVO muss daher das materiellrechtliche Vorverständnis der Erbrechtsordnungen der Mitgliedstaaten berücksichtigen, die sich an den Verhandlungen zur EuErbVO beteiligt haben. Bei diesen Überlegungen dürfen auch Irland und Großbritannien nicht übersehen werden, die sich erst im Frühjahr 2012 definitiv gegen eine Teilnahme an der EuErbVO entschieden ("opt out") und bis dahin sehr aktiv an den Verhandlungen teilgenommen und sie beeinflusst haben.
Unter den Erbrechtsordnungen in der EU kennen elf gemeinschaftliche Testamente. Unter diesen elf ist die Unterscheidung zwischen gemeinschaftlichen und gegenseitigen Testamenten außer in Finnland und Lettland nur in den Staaten mit common law-Rechtsordnungen bekannt. Beide Formen schließen sich in der Tradition des common law nicht aus, vielmehr können Testamente sowohl gemeinschaftlich als auch gegenseitig zugleich sein (joint and mutual wills). Den gemeinschaftlichen Testamenten wird unter den ausländischen europäischen Rechtsordnungen in Estland, Litauen, Österreich und einigen spanischen Regionen eine Bindungswirkung zugeschrieben, den gegenseitigen in Lettland, in Irland, dem Vereinigten Königreich und Zypern nur ausnahmsweise, wenn ein übereinstimmender entsprechender Wille dokumentiert ist. Im englischen Recht begründet eine Verletzung der Bindungswirkung grundsätzlich Schadensersatzansprüche gegen den Nachlass und erlaubt es im Übrigen dem Gericht, im Rahmen einer Ermessensentscheidung die Verfügung zu korrigieren, mit der der Erblasser gegen die Bindungswirkung verstoßen hat. In Deutschland, wo der Begriff der gegenseitigen Testamente ungebräuchlich ist, sind gemeinschaftliche Testamente bekanntlich nicht per se bindend. Erbrechtliche Bindung entfalten nur wechselbezügliche Verfügungen. Dieser Begriff kommt in der EuErbVO nicht vor.
Erbverträge im eigentlichen Sinn sind in Deutschland (§§ 2265 ff BGB), Estland, Lettland, Österreich und einigen spanischen Regionen bekannt. Während sie in Österreich nur Ehe- und Brautleuten offen stehen, können sie in Deutschland, Estland und Lettland von jedermann geschlossen werden.
Die EuErbVO definiert den Begriff des Erbvertrags in Art. 3 Abs. 1 lit. b) – verkürzt – als eine Vereinbarung, die Rechte an einem oder mehreren künftigen Nachlässen der an der Vereinbarung beteiligten Personen begründet, ändert oder entzieht. Einschränkungen zum zugelassenen Personenkreis macht die EuErbVO weder beim Erbvertrag noch bei gegenseitigen und gemeinschaftlichen Testamenten. Der zur Definition des Erbvertrags verwendete Begriff der "Vereinbarung" zeigt Parallelen zum englischen, also vom common law geprägten Begriffsverständnis. Dort sind Vereinbarungen ("agreements") bekannt, mit denen sich ein Testator verpflichtet, eine bestimmte letztwillige Verfügung zu treffen oder sie zu unterlassen. Sie sind an keine Form gebunden und können sich unmittelbar aus dem Inhalt von Testamenten oder aus einer gesonderten Urkunde ergeben. Eine gegenseitige Erbeinsetzung genügt nicht, um die Annahme einer solchen Vereinbarung zu rechtfertigen. Bindend sind derartige Vereinbarungen, wenn der Verpflichtete eine Gegenleistung erhält und die Bindungswirkung vereinbart wurde. Diese Vielgestaltigkeit der nationalen Gestaltungsmittel konnte der Verordnungsgeber nur durch ein auf das Notwendigste reduziertes materielles Begriffsverständnis, das sich von Formalien löst, in den Griff bekommen.