1. Fragestellung
Noch kniffeliger als das Verständnis des Begriffs des "Mitgliedstaats" ist die Auslegung der Begriffe "Erbvertrag", "gemeinschaftliche" und "gegenseitige Testamente", wie sie die Verordnung verwendet. Das Verständnis ist für den deutschen Erbrechtspraktiker essenziell, denn allein Art. 25, der mit "Erbverträge" überschrieben ist, geht auf eine mögliche erbrechtliche Bindungswirkung ein. In Art. 24, der die kollisionsrechtliche Behandlung von "Verfügungen von Todes wegen außer Erbverträgen" regelt, kommt eine Bindungswirkung weder im Wortlaut noch in der Sache vor. Daher stellt sich die Frage, ob deutsche gemeinschaftliche Testamente im Sinne der §§ 2265 ff BGB, die bekanntlich gemäß § 2271 BGB eine Bindungswirkung wechselbezüglicher Verfügungen kennen, dem Art. 24 oder Art. 25 EuErbVO unterfallen?
Hierbei sollte kein Zweifel aufkommen: Wären gemeinschaftliche Testamente nach Art. 24 EuErbVO anzuknüpfen, wäre ihre Bindungswirkung künftig nicht mehr geschützt. Ein aus einem gemeinschaftlichen Testament an wechselbezügliche Verfügungen gebundener überlebender Ehepartner könnte durch Wegzug ins Ausland oder durch Rechtswahl zugunsten eines ausländischen Rechts die Bindungswirkung des deutschen Rechts unterlaufen und ein einseitiges Widerrufstestament errichten, denn nach Art. 24 Abs. 3 EuErbVO ist die Wirksamkeit des Widerrufs nach dem hypothetischen Erbstatut zum Zeitpunkt des Widerrufs bzw. dem dann gewählten ausländischen Recht zu beurteilen. Die den Widerruf ausschließende deutsche Vorschrift des § 2271 BGB käme nicht zur Anwendung. Wäre stattdessen Art. 25 EuErbVO ("Erbverträge") auch auf gemeinschaftliche Testamente anzuwenden, unterfiele die Frage der Bindungswirkung eines nach deutschem Recht errichteten gemeinschaftlichen Testaments nach dessen Abs. 1 ebenfalls dem deutschen Recht. Die Anwendung des § 2271 BGB wäre hierdurch gesichert.
Die Frage, ob die EuErbVO die Bindungswirkung nur von deutschen Erbverträgen oder auch von gemeinschaftlichen Testamenten schützt, ist für die deutsche Gestaltungspraxis von ganz erheblicher Bedeutung. Betroffen ist nicht nur die (zunehmende) Zahl der Fälle mit Auslandsberührung, sondern sämtliche Nachfolgefälle. Zum Zeitpunkt der Nachfolgegestaltung lässt sich ja nicht mit hinreichender Sicherheit ausschließen, dass ein überlebender Ehepartner nach dem Tod des Erstversterbenden notfalls durch Wegzug einen Auslandsbezug erst herstellt. Wem eine sichere Bindungswirkung wichtig ist, dem müsste man künftig stets den (beurkundungspflichtigen) Erbvertrag empfehlen. Exakt diese Empfehlung sprechen Simon und Buschbaum, zwei Vertreter der Bundesnotarkammer in Brüssel, aus, nachdem sie aus der "amtlichen Überschrift" des Art. 25 EuErbVO und aus der Definition des Art. 3 Abs. 1 lit. d EuErbVO schlussfolgern, dass Art. 25 nicht für gemeinschaftliche Testamente gilt. Es wäre sicher zu einfach, den Autoren eine interessengeleitete Auslegung im Sinne der deutschen Notare zu unterstellen, die durch eine Ausweitung ihrer Beurkundungen auf sämtliche der Bindungswirkung fähigen Verfügungen von Todes wegen profitieren würden. Nachdem diese These jedoch bereits ohne erkennbare inhaltliche Auseinandersetzung aufgegriffen wurde, lohnt es, das Gewicht der beiden Argumente (amtliche Überschrift und Definition in Art. 3 EuErbVO) zu prüfen.
a) Amtliche Überschrift
Alle Überschriften der EuErbVO sind amtlich. Der für die Überschrift des Art. 25 EuErbVO gewählte Begriff "Erbverträge" und die Formulierung der Überschrift "Verfügungen von Todes wegen außer Erbverträgen" zu Art. 24 EuErbVO sind wie sämtliche EU-Verordnungen und die EuErbVO insgesamt autonom, also unabhängig vom Begriffsverständnis des nationalen Rechts auszulegen. Wenn Art. 25 EuErbVO also mit "Erbverträge" überschrieben ist, bedeutet es zunächst nicht viel mehr als eine zufällige Wortidentität zum Begriff des Erbvertrags nach den §§ 2274 ff BGB, aus der sich nicht schlussfolgern lässt, dass alle deutschen letztwilligen Verfügungen, die nicht Erbverträge iSd § 2274 BGB sind, vom Anwendungsbereich des Art. 25 EuErbVO ausgeschlossen sind. Maßgeblich ist allein das Begriffsverständnis der EuErbVO. Den Unterschied zwischen dem autonomen Begriffsverständnis der EuErbVO und demjenigen des nationalen Rechts macht Art. 3 Abs. 1 lit. c) EuErbVO augenfällig: Nach der dortigen Definition sind gemeinschaftliche Testamente im Verordnungssinn ausschließlich letztwillige Verfügungen mehrerer Personen in einer Urkunde. Demgegenüber können nach deutschem Erbrechtsverständnis auch in mehreren Urkunden enthaltene Verfügungen ein gemeinschaftliches Testament iSd §§ 2265 ff BGB bilden.