Um diese beiden Urteile der Cour de cassation angemessen bewerten zu können, erscheint es sachgerecht, zunächst einmal kurz den Streitstand darzustellen, wie er sich bis zu diesen Urteilen in Frankreich dargestellt hat.
Bis zur Nichtigkeitsentscheidung des Conseil constitutionnel vom 5.8.2011 zu Art. 2 des Gesetzes vom 14.7.1819 in dem oben unter 1. besprochenen Verfahren Michel Colombier war es zunächst einmal so, dass bei Erbstreitigkeiten, an denen französische Staatsangehörige beteiligt waren und bei denen diese durch ein ausländisches Erbstatut pflichtteilsmäßig gegenüber französischem Recht benachteiligt wurden, diese Folgen über die Anwendung dieses Art. 2 jedenfalls dann erfolgreich ausgehebelt werden konnten, wenn ausreichender Nachlass in Frankreich belegen war. Ein Rückgriff auf den ordre public war in diesen Fällen also gar nicht erforderlich.
Soweit es um Fälle ging, bei denen Art. 2 des Gesetzes vom 14.7.1819 nicht zum Zuge kam, hatte sich die Rechtsprechung zur Rechtsfrage des Pflichtteilsausschlusses durch Anwendung eines ausländischen Erbstatuts im Grunde genommen nur durch das bereits zitierte Urteil der Cour de cassation vom 20.3.1985 in der Rechtssache Caron geäußert, wobei angesichts der dortigen, als besonders angesehenen Umstände ein Rechtsmissbrauch ("fraude à la loi") angenommen worden war. Der damalige Sachverhalt war dabei seinerzeit so gewürdigt worden, dass unmittelbar vor dem Tod vom Erblasser eine juristische Gestaltung in mehreren Stufen allein mit dem Ziel gewählt worden war, den Pflichtteilsanspruch seiner beiden Kinder zu Fall zu bringen, somit also quasi eine Schädigungsabsicht im Vordergrund stand.
Die herausragende Bedeutung, die das Pflichtteilsrecht in Frankreich in der Vergangenheit immer gespielt hat, lässt sich nicht nur am vorgenannten, bis 2011 gültigen Art. 2 des Gesetzes vom 14.7.1819 ablesen, sondern auch daran, dass bis zum Reformgesetz vom 23.6.2006 ein lebzeitiger Pflichtteilsverzicht absolut unzulässig war und auch seither nur unter ganz strengen Voraussetzungen zulässig ist. Im Zuge der Diskussionen um die EU-ErbVO und deren Inkrafttreten, zusammen genommen mit der zwischenzeitlich erfolgten Nichtigkeitserklärung des Artikels 2 des Gesetzes vom 14.7.1819, gab es dann eine starke Strömung in der Wissenschaft und bei dem in Frankreich sehr starken Notariat, Pflichtteilsabweichungen generell als Verstoß gegen den ordre public anzusehen. Als besonders markant lässt sich hierfür nennen, dass das französische Notariat auf seinem Jahreskongress 2012, somit als unmittelbare Reaktion auf die gerade in Kraft getretene EU-ErbVO, gefordert hatte, der Gesetzgeber möge das französische Pflichtteilsrecht als Bestandteil des ordre public International gesetzlich und damit zugleich implizit im Sinne des Artikels 35 der VO festschreiben.
Um einen vermittelnden Ansatz im Zusammenhang mit Art. 35 EU-ErbVO hat sich aus französischer Sicht dann Lagarde, zugleich einer der Gründungsväter der Verordnung und eine unbestrittene Autorität auf dem Gebiet des Internationalen Privatrechts, bemüht und formuliert, ein ausländisches Recht, das einen Pflichtteilsanspruch nicht kenne, stelle nicht als solches einen Verstoß gegen den ordre public dar, sondern es müsse jeweils von Fall zu Fall anhand der konkreten Umstände geprüft werden, ob das Ergebnis zu einem inakzeptablen Ergebnis führe, so z. B., wenn minderjährige Kinder andernfalls in einer wirtschaftlich schwierige Lage geraten würden. Genau diese Begründung hat die Cour de cassation in ihren beiden Urteilen in der Tat aufgegriffen und dabei in beiden Fällen auch mit einer konkret fehlenden wirtschaftlichen Bedürftigkeit der Abkömmlingen argumentiert. So wie die Begründungen formuliert worden sind, wird man weiterhin sagen können, dass die Fälle, in denen ein Pflichtteilsausschluss den sonst Pflichtteilsberechtigten nicht in eine wirtschaftlich angespannte Lage bringt, zukünftig kaum mehr Aussicht haben werden, erfolgreich einen ordre public-Verstoß geltend zu machen. Dies gilt sowohl für Fälle im Anwendungsbereich der EU-ErbVO als auch außerhalb. Allerdings lässt die Begründung, die die Cour de cassation im Fall Michel Colombier gewählt hat, vermuten, dass sich das Gericht die Tür offenhalten wollte, Fälle wie den seinerzeitigen Fall Caron weiterhin als ordre public-Verstoß ansehen zu können, und zwar auch im Anwendungsbereich der EU-ErbVO.