Grenzen der Bindungswirkung könnten sich bei Wegfall des Schlusserben ergeben, wobei die Vorschrift des § 2069 BGB nach früher herrschender Meinung zum Zuge kam, sodass eine Schlusserbeneinsetzung im Zweifel auch dann als wechselbezüglich und bindend angesehen wurde, wenn nach dem Tod eines Kindes aufgrund dieser Auslegungsregel dessen Abkömmlinge zum Zuge kamen. Damit war es dem Längerlebenden fast gänzlich unmöglich, auf den Tod eines Kindes in irgendeiner Weise zu reagieren.
Allerdings entschied der BGH bereits im Jahre 2002 unter Aufgabe der bis dahin ergangenen Rechtsprechung und gegen die herrschende Meinung, dass die Vermutung des § 2270 Abs. 2 BGB auf Ersatzerben von verbindlich eingesetzten Schlusserben nur dann anwendbar sei, wenn sich Anhaltspunkte für einen auf deren Einsetzung gerichteten Willen der testierenden Eheleute feststellen ließen, wenn also die Erbenstellung der Ersatzerben nicht nur auf § 2069 BGB beruhe.
a) Fehlende Anhaltspunkte für eine Auslegung
In einem von dem BayObLG zu entscheidenden Sachverhalt fehlte es an Anhaltspunkten zur Feststellung eines eindeutigen Willens der Testierenden zur Einsetzung von Ersatzschlusserben. Weder positiv noch negativ ließen sich ausdrückliche Willensbekundungen in dem Testament feststellen. Auch alle Lebensumstände, die zu dem Testament geführt hatten, ließen kein zweifelsfreies Auslegungsergebnis gewinnen.
Dies ließ das BayObLG zu dem Ergebnis gelangen, dass die Auslegungsregel des § 2069 BGB zwar zum Zuge komme, die sich aus § 2069 BGB ergebende Ersatzerbfolge aber nicht wechselbezüglich sei, sodass die im Sachverhalt von der längerlebenden Ehefrau nach dem Vorversterben ihres Ehemanns verfügte Alleinerbeneinsetzung eines der Kinder für wirksam gehalten wurde.
3.3.2
b) Das OLG Hamm hatte einen Fall zu entscheiden, in dem die Eheleute einen einzigen Sohn hatten, der nach dem Tode des Vaters, aber noch vor der Mutter verstarb. Es gab das typische Berliner Testament. Nach dem Tod des Ehemannes errichtete die Erblasserin ein weiteres notarielles Testament in dem es dann hieß:
Zitat
"Mein Wille ist, dass weder meine Enkel noch meine Urenkel etwas von mir erben. Meine alleinige Erbin soll der Verein für Körper- und Mehrfachbehinderte … werden."
In den Entscheidungsgründen schließt sich das OLG zunächst der jüngeren BGH-Auffassung an, meint aber, aufgrund der im zu entscheidenden Sachverhalt festzustellenden Umstände müsse § 2069 BGB angewendet werden. Die Ehegatten hatten ihr gemeinschaftliches Testament erst in vorgerücktem Lebensalter errichtet. Zu diesem Zeitpunkt war ihr einziger Sohn schon seit 23 Jahren verheiratet. Aus dieser Ehe waren bereits drei Kinder hervorgegangen. Unter diesen Umständen müsse man im Rahmen einer konkreten Auslegung dazu gelangen, dass die Enkel als Ersatzerben berufen sein sollten. Dies wird mit allgemeinen Erwägungen zu dem Gedanken der Familienerbfolge begründet.
Keim meint, dass diese Erwägungen für eine individuelle Auslegung des Erblasserwillens nicht ausreichten. Die außerhalb der Urkunde gefundenen Indizien müssten zu einem eindeutigen Auslegungsergebnis im konkreten Einzelfall führen. Der hier aufgestellte Erfahrungssatz sei zu allgemein. Damit werde durch die Hintertür die Kumulation der Auslegungsregeln des § 2069 BGB und des § 2270 Abs. 2 BGB wieder eingeführt. Daher sei die Auffassung des OLG Hamm als zu weitgehend abzulehnen.
Eigene Stellungnahme:
Die Vorgaben des BGH werden offensichtlich unterschiedlich umgesetzt. Allerdings dürfte eine Kumulation der §§ 2270 Abs. 2 BGB und 2069 BGB nur ausnahmsweise anzunehmen sein. Voraussetzung ist ein durch eine individuelle Auslegung zu ermittelnder Wille der Testierenden, an dessen Annahme hohe Anforderungen gestellt werden sollten. Eine Bindungswirkung wird man nicht mit allgemeinen Erwägungen zur üblichen Familienerbfolge begründen dürfen.