Das Kinder- und Jugendhilferecht ist ein besonderer Teil des Sozialrechts, der auf die Förderung von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet ist. Es fällt in die Verwaltungsgerichtsbarkeit, und so hatte das BVerwG über einen Fall zu entscheiden, bei dem es darum ging, ob eine Erbschaft verwertbares Vermögen der Hilfeempfängerin darstellt.
Der Fall: Der Kostenbeitragsbescheid in der Jugendhilfe
Die Klägerin hatte im September 2006 mehrere Hausgrundstücke geerbt. In dem Testament war bis zur Vollendung ihres 21. Lebensjahres Testamentsvollstreckung in der Form der Dauertestamentsvollstreckung angeordnet worden, die im Fall eines begründeten Bedürfnisses – etwa einer noch fortdauernden Ausbildung – maximal bis zur Vollendung ihres 25. Lebensjahres am 16.4.2017 fortgesetzt werden sollte. Seit Vollendung ihres 18. Lebensjahres – von 2010–2012 – hatte die junge Frau Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung (Leben in einer Pflegefamilie) bezogen. Zu den Kosten dieser Maßnahme wurde sie durch Kostenbeitragsbescheid vom 5.11.2012 in Höhe von 97.947,65 EUR herangezogen.
Rechtsgrundlage des Kostenbeitragsbescheides für die vollstationäre Unterbringung in einer Pflegefamilie als Hilfe für junge Volljährige in der Form der Heimerziehung (§§ 41, 34 SGB VIII) bilden die §§ 92 Abs. 1 iVm Abs. 1 Nr. 2 iVm § 91 Abs. 1 Nr. 5 b und 8 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGBVIII) . Danach werden junge Volljährige aus ihrem Vermögen nach Maßgabe der §§ 90, 91 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) sowie des § 94 SGB VIII zu den Kosten herangezogen. Dazu darf wegen der Verweisung auf das SGB XII und des dort geltenden Faktizitätsprinzips/Gegenwärtigkeitsprinzips nur das verwertbare Vermögen herangezogen werden. Es sind die im SGB XII geltenden Rechtsgrundsätze heranzuziehen und es ist – so das BVerwG – den Besonderheiten des Jugendhilferechts Rechnung zu tragen.
Vermögen ist danach verwertbar, wenn
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der Vermögensinhaber rechtlich verfügen darf und |
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tatsächlich verfügen kann. |
Vermögen ist rechtlich unverwertbar, wenn der Inhaber des Vermögens in der Verfügung beschränkt ist und eine Aufhebung dieser Verfügungsbeschränkung nicht erreichen kann.
Eine tatsächliche Unverwertbarkeit besteht, wenn der Vermögensinhaber aus tatsächlichen Gründen gehindert ist, den wirtschaftlichen Wert des Vermögensgegenstands zu realisieren.
Die Verwertbarkeit muss im Rahmen einer zeitlichen Dimension betrachtet werden. Das Vermögen muss nicht sofort, aber in angemessener – also absehbare Zeit verwertet werden können. Von einer generellen Unverwertbarkeit ist auszugehen, wenn völlig ungewiss ist, wann eine für die Verwertbarkeit notwendige Bedingung eintritt. Das bedeutet, dass von Verwertbarkeit grundsätzlich nur dann ausgegangen werden kann, wenn der Kostenbeitragspflichtige den wirtschaftlichen Wert seines Vermögens innerhalb eines Zeitraums realisieren kann, innerhalb dessen der jugendhilferechtliche Bedarf besteht. Dies entspricht dem Grundsatz der Konnexität zwischen der Gewährung einer voll- oder teilstationären Leistung und deren Refinanzierbarkeit durch Erhebung eines Kostenbeitrags.
Wenn der Eintritt der Verwertbarkeit ungewiss ist, dann muss der Leistungsträger eine Prognose abgeben. Wenn die Verwertung innerhalb des Bewilligungszeitraums rechtlich zulässig und tatsächlich möglich sein wird, ist die Verwertbarkeit zu bejahen. Das BVerwG eröffnet aber auch darüber hinaus einen Zeitraum, für den Verwertbarkeit anzunehmen ist:
Zitat
"Wenn das Verwertungshindernis nach dem Ende des Bewilligungszeitraums wegfällt und konkret feststeht, wann dies der Fall ist, kann ausnahmsweise auch dieses Vermögen verwertbares Vermögen darstellen. Ob der bis dahin verstreichende Zeitraum als angemessen anzusehen ist, ist ausschließlich nach zeitlichen Gesichtspunkten zu beurteilen."
Dazu muss
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der Zeitpunkt der Verwertbarkeit konkret feststehen |
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der Zeitpunkt bis zum Eintritt der Verwertbarkeit noch in angemessenem zeitlichen Verhältnis zum Bewilligungszeitraum stehen |
Steht zum Zeitpunkt der Leistungsgewährung fest – so das BVerwG –, dass der Kostenbeitragspflichtige zu einem bestimmten Zeitpunkt über Vermögen verfügen wird, so tritt das Interesse des Kostenbeitragspflichtigen, nicht aus zukünftigem Vermögen zu den Kosten einer voll- oder teilstationären Leistung herangezogen zu werden, gegenüber dem Nachrang der Jugendhilfe zurück.
Bei fortlaufendem Leistungsbezug ist nach Ablauf des jeweiligen Bewilligungszeitraums für jeden weiteren Bewilligungszeitraum eine neue Entscheidung über die zeitliche Angemessenheit erforderlich. Sie wird ohne Bindung an die vorangegangene Entscheidung getroffen. (Prüfung abschnittsweise und für jeden Bewilligungszeitraum; keine Gesamtschau auf den Gesamtbezugszeitraum).
Im vorliegenden Fall bestand die Besonderheit darin, dass der Leistungszeitraum vom 16.4.2010 bis zum 30.4.2012 datierte, die rechtliche Verfügungsmacht über den Nachlass aber erst 5 Jahre später nach Beendigung der drei Bewilligungsz...