Das fragliche Testament orientierte sich an dem in den 1970er-Jahren entwickelten Prototyp eines Behindertentestaments. Dieses besteht typischerweise aus einer Kombination mehrerer geschickt miteinander verknüpfter erbrechtlicher Instrumente, nämlich
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einer Erbfolgeregelung oberhalb des Pflichtteilsanspruchs mit der Besonderheit der (nicht befreiten) Vorerbschaft für den Sozialhilfebezieher und der Nacherbschaft eines Nichtsozialhilfebeziehers |
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einer Dauertestamentsvollstreckung (§ 2209 BGB) für den Teil des Nachlasses, der auf den bedürftigen Vorererben entfällt |
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Verwaltungsanordnungen nach § 2216 BGB im Sinne von sozialhilfeunschädlichen Zuwendungen an den unter Testamentsvollstreckung stehenden bedürftigen Erben |
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Verwaltungsanordnungen nach § 2216 BGB im Sinne von sozialhilfeunschädlichen Zuwendungen an den mit Testmentsvollstreckung belasteten bedürftigen Erben |
Dem Konstrukt ist – wie allen daraus später entwickelten Varianten – eigen, dass es unterstellt, dass die einzelnen Nachlassgegenstände sozialhilferechtlich Vermögen sind und es möglich ist, dem Begünstigten durch Zweckbindung des Erblassers im Rahmen der sozialhilferechtlichen Schonvermögensregeln "sozialhilfeunschädlich" Zuwendungen – von Bengel "Reichnisse" genannt – machen zu können. Grundlage war anfänglich § 88 Abs. 3 BSHG (heute § 90 Abs. 3 SGB XII und § 12 SGB II), der bestimmte, dass die Sozialhilfe nicht vom Einsatz oder von der Verwertung eines Vermögens abhängig gemacht werden dürfe, soweit dies für den, der das Vermögen einzusetzen habe, und für seine unterhaltsberechtigten Angehörigen eine Härte bedeuten würde.
Der so begünstigte Sozialhilfebezieher hat die Gemüter in der Rechtswissenschaft heftig bewegt. Sogar das "gesunde Volksempfinden" wurde z. T. zum Beweis der Sittenwidrigkeit dieser Testamentsform angerufen. Aber das Tauziehen darum, ob ein Erblasser wirksam letztwillige Verfügungen im Sinne eines klassisch ausgestalteten Behindertentestaments treffen kann, dürfte mit der Entscheidung des BGH vom 19.1.2011 zivilrechtlich beendet sein: Er darf.
Unter der Voraussetzung erbrechtlicher Widerspruchsfreiheit wird die Kombination des rechtlich möglichen Instrumentariums bis an ihre immanenten Grenzen als Ausdruck der potenzierten Machtfülle des Erblassers angesehen. Das genutzte Instrumentarium darf lediglich nicht leerlaufen. Ein irgendwie gearteter Vorteil muss beim Behinderten ankommen. Die zentrale Botschaft der Entscheidung ist, dass alles, was das Erbrecht mit Blick auf die Nachlassbegehrlichkeiten anderer zulässt, grundsätzlich auch gegenüber den Sozialleistungsträgern gelten muss, es sei denn, sozialrechtliche Normen untersagten dies zwingend.
Der BGH hat in seiner Entscheidung vom 19.1.2011 auch die Diskussion um die erbrechtlichen Gestaltungsbefugnisse des sozialhilfebeziehenden Erben beendet und dessen Pflichtteilsverzicht den Makel der Sittenwidrigkeit genommen. Zugleich hat der BGH die Frage positiv beantwortet, ob ein Bezieher von "Fürsorgeleistungen" von seinem erbrechtlichen Recht auf Ausschlagung Gebrauch machen kann. Nebenbei hat der BGH festgeschrieben, dass der Sozialhilfeträger das Ausschlagungsrecht des Erben nicht auf sich überleiten und ausüben kann, um auf diese Art und Weise den Pflichtteilsanspruch nach § 2306 Abs. 1 BGB geltend zu machen.
Mit der Entscheidung vom 19.1.2011 sollte Rechtssicherheit mit weit über den Streitgegenstand hinausreichenden Wirkungen für die Nachfolgeplanung von Familien mit behinderten Kindern geschaffen werden. Nach ausführlicher rechtlicher Diskussion zog der BGH in dieser Entscheidung die Schlussfolgerung: "Das alles spricht entscheidend dafür, dass den Familien behinderter Leistungsbezieher das über die Grenzen des § 92 Abs. 2 SGB XII hinausgehende Einkommen und Vermögen auf Dauer und nicht nur zu Lebenszeiten der Eltern belassen werden soll." Diese Beurteilungskriterien sollen – so ist in einem nachfolgenden Aufsatz nachzulesen – auch für die Gruppe der "wirtschaftlich Behinderten" gelten. Ob die Entscheidung so weitgehende Wirkung in der Zukunft entfalten kann und dazu führen wird, dass behinderten Menschen in einem so allgemein verstandenen Sinne in erheblichem Umfang Erbmittel zugute kommen werden, steht allerdings nicht fest.
Zum einen steht noch nicht fest, wo die immanenten Grenzen der Kombination der im Einzelfall gewählten erbrechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten liegen. Insbesondere zu den Verwaltungsanordnungen und den Grundsätzen der ordnungsgemäßen Verwaltung nach § 2216 Abs. 2 BGB ist bisher in der Rechtsprechung in Bezug auf Behindertentestamente wenig Konkretes entschieden. Die reichsgerichtliche Rechtsprechung, nach der es zur ordnungsgemäßen Verwaltung im Sinne von § 2216 Abs. 2 BGB gehört, dass der Testamentsvollstrecker zumindest die für den Unterhalt benötigten Mittel an den Erben herausgibt, ist bisher soweit ersichtlich nicht diskutiert worden. Es ist auch nicht wirklich ausdiskutiert, wie es sich im Einzelfal...