Die Ermittlung des hypothetischen Erbstatuts, d. h. die Anwendung der kollisionsrechtlichen Bestimmungen der Verordnung unter der Hypothese, dass der Erblasser im Zeitpunkt des Abschlusses verstirbt, wirft abstrakt betrachtet keine größeren Probleme auf. Allerdings findet sich in Erwägungsgrund 51 die Erläuterung, dass bei der Bestimmung des hypothetischen Erbstatus der Verweis auf das hypothetisch anwendbare Recht als Bezugnahme entweder auf das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der betroffenen Person am Errichtungstag oder im Fall einer Rechtswahl auf das Recht der Staatsangehörigkeit, die sie am Errichtungstag[19] besaß, erfolgt. Hier wurden wahrscheinlich nur die Grundanknüpfungen nach Art. 21 Abs. 1 ErbRVO und Art. 22 Abs. 1 ErbRVO in den Blick genommen.

[19] Während Art. 25 ErbRVO auf den "Zeitpunkt" der Errichtung abstellt, bezieht sich Erwägungsgrund 51 auf den "Tag" der Errichtung. Sachlich präziser ist die Formulierung des Art. 25 ErbRVO, anderen Sprachfassungen (z. B. der englischen, französischen, italienischen oder spanischen) näher Erwägungsgrund 51.

1. Abschlusszeitpunkt

Regelmäßig wird sich der Zeitpunkt, zu dem der Erbvertrag geschlossen wurde, anhand einer ausdrücklichen Datierung oder aufgrund zu beachtender Formalien[20] feststellen lassen. Schwierigkeiten können jedoch bei komplexeren Erbverträgen – etwa unter aufschiebender Bedingung geschlossenen oder unter Zustimmungs- oder Genehmigungsvorbehalt stehenden – auftreten. Hier ist die Frage nur ergebnisrelevant, wenn sich zwischen den potenziellen Errichtungszeitpunkten die Anknüpfungstatsachen, d. h. Wohnsitz oder Staatsangehörigkeit der betreffenden Person(en), geändert haben. Zudem müssten die potenziell beteiligten Rechte zu abweichenden Ergebnissen gelangen. In diesem Fall führt die Anwendung des prospektiven Rechts, die beispielsweise im Internationalen Schuldvertragsrecht aus Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO bekannt ist,[21] zumindest bei objektiver Anknüpfung nicht weiter, weil unklar bliebe, welcher Zeitpunkt für die Bestimmung des prospektiven Rechts den Ausschlag gäbe. Eine europäisch-autonome Bestimmung des Zeitpunkts, zu dem der Erbvertrag geschlossen wurde, scheint daher angezeigt. Abgestellt werden sollte auf den Moment, in dem die letzte am Erbvertrag beteiligte Person – unabhängig davon, ob ihr Nachlass betroffen ist oder nicht – ihre auf den Vertragsschluss gerichtete Erklärung wirksam abgegeben hat. Denn erst in diesem Moment liegt eine "Vereinbarung" (agreement, accordo, accord, acuerdo) vor, die nach Art. 3 Abs. 1 lit. b) ErbRVO den Erbvertrag konstituiert.

[20] Beispielsweise bei deutschem Formstatut nach § 2276 Abs. 1 BGB.
[21] Nach Art. 10 Abs. 1 Rom I-VO sind Zustandekommen und Wirksamkeit eines Vertrags nach dem Recht zu beurteilen, das zur Anwendung gelangte, wenn der Vertrag wirksam wäre.

2. Offensichtlich engere Verbindung (Art. 21 Abs. 2 ErbRVO)

Art. 25 ErbRVO ordnet sowohl in Absatz 1 als auch in Absatz 2 Unterabsatz 1 an, das Recht zu bestimmen, das "nach dieser Verordnung auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden wäre". Danach ist auch die Ausweichklausel nach Art. 21 Abs. 2 ErbRVO, die bei offensichtlich engerer Verbindung des Erblassers zu einem anderen Staat erlaubt, von der Anknüpfung an den gewöhnlichen Aufenthalt nach Art. 21 Abs. 1 ErbRVO abzuweichen,[22] heranzuziehen. Hierzu im Widerspruch steht Erwägungsgrund 51, der die genannte Bezugnahme als auf das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts gerichtet verstanden wissen möchte. Da die Erwägungsgründe eines europäischen Sekundärrechtsaktes keine selbstständige Rechtsquelle darstellen, sondern in Erfüllung der Begründungspflicht nach Art. 296 Abs. 2 AEUV dem Rechtsakt vorangestellt werden,[23] verpflichten sie zur "erwägungsgrundkonformen Auslegung"[24] des Rechtsaktes, die jedoch ihre Grenze an dessen Wortlaut findet. Art. 25 ErbRVO lässt sich im von Erwägungsgrund 51 genannten Sinn nicht unter Überschreitung der Wortlautgrenze auslegen. Das nach der Verordnung hypothetisch anwendbare Recht ist gerade nicht stets das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Erblassers. Zwar trüge die Berufung des Aufenthaltsrechts ohne Ausweichklausel zum hypothetischen Todeszeitpunkt dem Gedanken der Rechtssicherheit für die Parteien, auf dem die Anknüpfung des Art. 25 Abs. 1 und 2 ErbRVO beruht,[25] besser Rechnung. Denn die Unwägbarkeit der wesentlich engeren Verbindung zu einem anderen Staat entfiele aus der Bestimmung des anwendbaren Rechts. Im Verordnungsgebungsverfahren wurde jedoch die Ausweichklausel aufgenommen,[26] um dem Rechtsanwender die Möglichkeit einzuräumen, im Ausnahmefalle von der Grundanknüpfung abzugehen. Ermöglicht werden soll Einzelfallgerechtigkeit, deren Wahrung auch bei der Bestimmung des auf einen Erbvertrag anwendbaren Rechts achtenswertes kollisionsrechtliches Interesse ist.[27] Deshalb sollte mE bei der Bestimmung des hypothetischen Erbstatuts auch eine offensichtlich engere Verbindung nach Art. 21 Abs. 2 ErbRVO Beachtung finden.[28]

[22] Näher Dörner, ZEV 2012, 505, 510; Dutta, FamRZ 2013, 4, 8; Wilke, RIW 2012, ...

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