Witwer W verfügt in einem Laientestament, dass seine Kinder A und B gleichberechtigt erben sollen, wobei Sohn A sein Haus bekomme. A wohnt in der Nachbarschaft und hat viel für W getan (§ 2057 a BGB bleibt unbeachtet). Der Nachlass hat einen Wert von 400.000 EUR, wovon 300.000 EUR auf das Haus entfallen. Es ist unklar und strittig, inwieweit es sich bei der Zuwendung des Hauses um eine Teilungsanordnung nach § 2048 BGB oder ein Vorausvermächtnis nach § 2150 BGB (Begünstigungswille des W zugunsten des A?) handelt. Je nachdem ist es für B sinnvoll, den hälftigen Erbteil nach § 2306 Abs. 1 BGB auszuschlagen und seinen Pflichtteil von 1/4 geltend zu machen: Bei einer Teilungsanordnung nimmt er das Erbe an und erhält die 100.000 EUR Restnachlass zuzüglich einer Ausgleichszahlung von 100.000 EUR seines Bruders A; bei einem Vorausvermächtnis schrumpft der Erbteil auf einen wirtschaftlichen Wert von 50.000 EUR, sodass er mit dem Pflichtteil von 100.000 EUR besser fährt. Ab wann beginnt die sechswöchige Ausschlagungsfrist für B zu laufen?
Lösung: Seit dem 1.1.2010 sieht § 2306 Abs. 1 BGB nF ein generelles Wahlrecht des pflichtteilsberechtigten Erben vor, vergleichbar demjenigen des pflichtteilsberechtigten Vermächtnisnehmers in § 2307 Abs. 1 BGB. Während bisher nach § 2306 Abs. 1 BGB aF die Relation Erbteil zu Pflichtteil von zentraler Bedeutung ist und damit auch folgerichtig die Kenntnis des Erben hiervon, ist dies bei einem generellen Wahlrecht nicht mehr der Fall. Der pflichtteilsberechtigte Erbe muss immer wählen, egal wie hoch Erbteil und/oder Pflichtteil sind. Dies ist v. a. bei Anrechnungs- und Ausgleichungspflichten (§§ 2315 f, 2050 ff BGB) von Bedeutung, denn die alte Rechtsprechung zum verzögerten Fristlauf in den Fällen der Werttheorie ist damit überholt, da entscheidend de lege lata allein die Kenntnis nach den allgemeinen Grundsätzen der §§ 1944 Abs. 2, 2306 Abs. 1 BGB nF ist. Es wird berechtigt kritisiert, dass dieses Wahlrecht ohne ausreichende Informationsgrundlage fragwürdig ist.
Der vorliegende Fall betrifft nun keinen der alten Werttheorie und hätte sich nach altem Recht genauso gestellt, denn der Erbteil von B mit 1/2 ist immer größer als sein Pflichtteil von 1/4. Das Problem ist vielmehr die unklare Auslegung des Testaments, ob eine nicht wertverschiebende Teilungsanordnung oder ein fast nachlassaushöhlendes Vorausvermächtnis gegeben ist. Bisher wurde – allerdings bezogen auf die frühere bedeutsame Unterscheidung zwischen Satz 1 und Satz 2 – allgemein formuliert, dass "zur faktischen Gewährleistung des Wahlrechts nach § 2306 Abs. 1 Satz 2 BGB aF die Ausschlagungsfrist in extensiver Auslegung der Norm erst beginne, wenn der Betroffene Kenntnis davon erlange, dass der ihm hinterlassene Erbteil die Hälfte seines gesetzlichen Erbteils übersteige und er somit auf zutreffender Tatsachenbasis seine Entscheidung treffen könne". Weitergehend schlug U. Mayer vor, bei einer Belastung mit einem Vorausvermächtnis auf die Kenntnis des pflichtteilsberechtigten Erben vom konkreten Wert seines Erbteils im Verhältnis zu seinem Pflichtteil abzustellen, denn erst dann könne eine sachgerechte Entscheidung getroffen werden. Aus dem Gesetz lässt sich diese Auslegung nicht herleiten.
Bezogen auf die Quoten weiß B sofort, dass er mit seinem Erbteil von 1/2 über seinem Pflichtteil von 1/4 liegt; problematisch ist ja die Wertrelation des alternativ Hinterlassenen. Die Kenntnis muss sich aber nur auf die Anordnung der Beschränkungen und Beschwerungen als solche beziehen, unabhängig von den tatsächlichen Wertverhältnissen, die der pflichtteilsberechtigte Erbe selbst einschätzen muss.
B weiß auch, dass sein Erbteil entweder mit der Beschränkung Teilungsanordnung oder mit der Beschwerung Vorausvermächtnis belastet ist. Beide Varianten unterfallen § 2306 Abs. 1 BGB – also auch die Teilungsanordnung. Folglich kann die sichere Kenntnis des B, welcher Art seine Belastung ist, wohl kein Hindernis für den Fristlauf sein, da das Gesetz augenscheinlich von einer "Gleichwertigkeit" der Belastungen ausgeht. Daher kann auch eine Anleihe an die hM, wonach die Frist nicht läuft, wenn der pflichtteilsberechtigte Miterbe die Beschwerung durch Vermächtnis irrig für unwirksam gehalten hat, nicht unmittelbar weiterhelfen.
Lindner hält es für denkbar, dass die Rechtsprechung entsprechend der bisherigen Praxis hohe Anforderungen an die Kenntnis in § 2306 Abs. 1 BGB nF stellen wird und dafür verlangt, dass der pflichtteilsberechtigte Erbe nicht nur die Beschwerungen und Beschränkungen als solche kennt, sondern auch ihre wertmäßigen Auswirkungen auf seinen Erbteil abschätzen kann. Ungeachtet des Ziels der kurzen Ausschlagungsfristen, für schnelle Rechtssicherheit zu sorgen, ist diese Lösung eines verzögerten Fristlaufs mE vorzugswürdig gegenüber derjenigen, dem B bei einer Fehlentscheidung in Kenntnis der Problematik ein Anfechtungsrecht zuzugestehen. Die Ausschlagungsfrist beginnt daher erst ab sicherer Kenntnis davon zu...