1. Definition des Begriffs "gemeiner Wert"
a) Allgemeine Definition nach § 9 Abs. 2 Satz 1 BewG
Gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 BewG wird der gemeine Wert durch den Preis bestimmt, der im gewöhnlichen Geschäftsverkehr nach der Beschaffenheit des Wirtschaftsgutes bei einer Veräußerung zu erzielen wäre.
Der Begriff "gewöhnlicher Geschäftsverkehr" bezeichnet dabei den sich nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen vollziehenden Handel, bei dem der Preis allein durch Angebot und Nachfrage bestimmt wird. Kennzeichnend ist darüber hinaus, dass die Vertragspartner einander ohne (ggf. auch wirtschaftlichen) Zwang aus freien Stücken und unter Wahrung ihrer eigenen wirtschaftlichen Interessen gegenübertreten. Das ist beispielsweise im Zwangsversteigerungsverfahren prinzipiell nicht der Fall.
Die Beschaffenheit eines Wirtschaftsguts wird durch sämtliche charakteristischen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse bestimmt. Zu diesen Verhältnissen gehört auch die Individualität des jeweiligen Wirtschaftsguts. Bei Gesellschaftsanteilen hängt die Beschaffenheit daher zum einen von der wirtschaftlichen Ertragskraft bzw. dem Wert des von der Gesellschaft gehaltenen Unternehmens ab, zum anderen von der rechtlichen (insbesondere gesellschaftsvertraglichen) Ausgestaltung der durch die Anteile verkörperten Beteiligungsrechte. Soweit es sich bei diesen nicht um ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse iSv § 9 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 BewG handelt, müssten sie also in die Ermittlung des gemeinen Werts einfließen (auch wenn § 97 BewG dies gerade nicht ermöglicht).
b) "Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse" – Qualifikationen nach § 9 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 BewG
Ungewöhnliche oder persönliche Verhältnisse dürfen sich nach § 9 Abs. 2 Satz 2 BewG auf die Bewertung nicht auswirken. Ungewöhnliche Verhältnisse in diesem Sinne sind solche, mit denen im allgemeinen Geschäftsverkehr nicht gerechnet wird, und die im Zweifel auch nicht für die Allgemeinheit, also den Markt insgesamt, gelten.
Persönliche Verhältnisse sind solche, die nicht das Bewertungsobjekt kennzeichnen, sondern vielmehr den (potentiellen) Verkäufer bzw. Käufer oder das Verhältnis zwischen beiden (z. B. Verwandtschaftsverhältnisse etc.). Sie sind in jedem Fall bei der Bewertung zu eliminieren, und zwar unabhängig davon, wie viele Personen von ihnen betroffen sind bzw. wie häufig sie vorkommen. Zu den persönlichen Verhältnissen iSv § 9 Abs. 2 S. 3 BewG zählen nach § 9 Abs. 3 BewG auch Verfügungsbeschränkungen, die in der Person des Steuerpflichtigen oder eines Rechtsvorgängers begründet sind.
(1) Sichtweise der Rechtsprechung und Literatur-Ansichten
Als ungewöhnliche Umstände werden insbesondere Preiskonzessionen/Vorzugspreise und von der Norm abweichende Zahlungsbedingungen angesehen.
Allerdings liegt nicht jeder Sondereinfluss außerhalb des gewöhnlichen Geschäftsverkehrs. So sind z. B. Preiserhöhungen, die auf dem besonderen Interesse eines Unternehmens am Eintritt in einen bestimmten Markt beruhen, nicht als ungewöhnlich anzusehen. Dasselbe gilt für den Handel mit Sperrminoritäten, Schachtelbeteiligungen oder Mehrheitsbeteiligungen an Kapitalgesellschaften. Als Verkauf im Rahmen des gewöhnlichen Geschäftsverkehrs kann auch die Übernahme von GmbH-Anteilen anlässlich einer Kapitalerhöhung, z. B. bei Hinzutreten neuer Gesellschafter, anzusehen sein.
Zur Frage, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen auch vom jeweiligen Regelstatut abweichende Gesellschaftsvertragsklauseln betreffend Stimmrechtsverteilung, Beteiligung am Liquidationserlös etc. zu berücksichtigen sind, finden sich weder in der Rechtsprechung noch in der einschlägigen Literatur vertiefte Ausführungen. Zwar hat der BFH ein gesellschaftsvertraglich bedungenes, die Beteiligungsquote bei weitem übersteigendes Stimmrecht kürzlich als für die Bewertung unbeachtlich angesehen. Allerdings handelte es sich im entschiedenen Fall – was das Gericht auch zu Recht herausgestellt hat – um ein an die konkrete Person des Gesellschafters anknüpfendes Sonderrecht, also um einen Umstand, der im Bereich der persönlichen Verhältnisse iSv § 9 Abs. 2 S. 2 BewG liegt. Rückschlüsse darauf, wie Sachverhalte zu beurteilen sind, bei denen etwaige Sonderstimmrecht an den Geschäftsanteil als solchen anknüpfen, also jedem Inhaber...