Zusammenfassung
Streitigkeiten um den Pflichtteil sind häufig, was auch darauf zurückzuführen ist, dass Erblasser und Erben versuchen, den Anteil des Pflichtteilsberechtigten zu verringern. Dabei sind Manipulationen zulasten des Pflichtteilsberechtigten, so lässt sich, durch die Praxis bestätigt, vermuten, keineswegs selten. Dass treuwidrige Einwirkungen möglich sind, wird anerkannt, aber wegen der "Gleichheit der Interessenrichtung von Erben und Pflichtteilsberechtigten" als "unüblich" bezeichnet. Der BGH hat das schon vor Jahrzehnten kritischer gesehen. Zwar sei nicht zu erwarten, dass der Erbe Nachlassverbindlichkeiten verschweigt, schließlich wird sein Interesse meist dahin gehen, den Nachlass gering zu halten; wohl aber sei es keineswegs ausgeschlossen, dass der Erbe "nichtvorhandene Verbindlichkeiten erdichtet", um auf diese Weise den Netto-Nachlass zu vermindern. Manipulationen werden nicht zuletzt begünstigt durch den Dispositionsgrundsatz des Zivilrechts, der es den Parteien überlässt zu entscheiden, was sie vortragen. Wo etwas nicht bestritten wird, gilt es als zugestanden, denn man kann im Regelfall unterstellen, dass jede Seite um ihres Vorteils willen das für sie Günstige vorbringt. Dieser Grundsatz muss aber scheitern, wenn die Parteien des Zivilprozesses das gleiche Ziel anstreben, weil sie den voraussichtlichen Pflichtteil eines Dritten verringern wollen. Deshalb ist die Frage, welche Verbindlichkeiten abgezogen werden dürfen, von großer Bedeutung, gleichwohl wird sie auch in ausladenden Werken nur knapp behandelt.
1. Stichtagsprinzip
Der Pflichtteil ist aus dem Nachlass nach Abzug der Verbindlichkeiten zu zahlen, wobei der Wert des Nachlasses auf den Todestag zu berechnen ist (§ 2311 BGB), Veränderungen nach dem Eintritt des Erbfalls bleiben unberücksichtigt (Stichtagsprinzip). Abzugsfähig sind allerdings nicht nur die Verbindlichkeiten, die beim Tod des Erblassers schon feststanden; es genügt vielmehr, wenn der Rechtsgrund für die Nachlassverbindlichkeit zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden war. Das gilt andererseits auch für das vom Erblasser erworbene Lotterielos, auf das der Hauptgewinn fällt. Außer Ansatz bleiben alle Ansprüche gegen den Nachlass, die auf eine letztwillige Verfügung zurückgehen (Pflichtteilsansprüche aus dem Erbfall selbst, Vermächtnisse, Auflagen, Kosten für die Nachlassauseinandersetzung). Über die Zweifelhaftigkeit entscheidet die Sachlage, nicht etwa die Ansicht des Erben.
Deshalb weicht § 2313 BGB bei ungewissen und unsicheren Rechten (Forderungen des Nachlasses gegen Dritte) sowie bei zweifelhaften Verbindlichkeiten (Ansprüche Dritter gegen den Nachlass, § 2313 Abs. 2 S. 1 BGB) vom Stichtagsprinzip teilweise ab. Im einen wie im anderen Fall ist unklar, ob die Ansprüche realisiert werden (können). Sie sind zu behandeln wie aufschiebend bedingte Rechte und Verbindlichkeiten, was bedeutet, dass sie (zunächst) unberücksichtigt bleiben (§ 2313 Abs. 1 S. 1 BGB), der Netto-Nachlasswert wird ohne sie berechnet. Erst wenn "Klarheit" über die Forderung des Nachlasses oder die Nachlassverbindlichkeit besteht, kommt es zu einem nachträglichen Ausgleich zwischen Pflichtteilsberechtigtem und Erben (§ 2313 Abs. 1 S. 3 BGB). Für die Frage, ob eine Verbindlichkeit zweifelhaft ist, entscheidet allerdings der Zeitpunkt, an dem der Anspruch geltend gemacht wird. Ist die Zweifelhaftigkeit beseitigt, wird die Verbindlichkeit der Höhe nach berechnet nach dem Wert am Todestag. Spätere Wertveränderungen bleiben also außer Betracht, wobei die zwischenzeitliche Veränderung der Kaufkraft zu berücksichtigen ist.