In der Praxis relevanter dürften hingegen die Fallkonstellationen sein, bei denen ein neuer Ehegatte den Erblasser geheiratet hatte und die Schenkungen etc. vor dem Zeitpunkt der Eheschließung erfolgten. Führt nun die Abkehr von der Theorie der Doppelberechtigung zwingend auch zu einer Erweiterung der Pflichtteilsrechte von Ehepartnern oder eingetragenen gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern?
Wenn man die Entscheidung genau liest, fällt deutlich auf, dass es gerade kein obiter dictum hinsichtlich der Problematik mit neuen Ehegatten gibt. Der BGH hat es gerade vermieden, diese Konstellation zu erwähnen.
Nach der hier vertretenen Auffassung kann keinesfalls mit der neuen Entscheidung des BGH ohne Weiteres eine Gleichbehandlung für nachrückende Ehegatten gerechtfertigt werden. Der Wegfall der Theorie der Doppelberechtigung führt somit nicht automatisch zu einer Gleichstellung aller Konstellationen. Demzufolge ist jede Konstellation einzeln zu betrachten und zu bewerten.
Vielmehr sprechen gewichtige Gründe für eine andere rechtliche Beurteilung bei nachrückenden Ehegatten etc.
Hierzu ist es notwendig, die Stellung des Ehegatten im Pflichtteilsrecht näher zu betrachten. Das Pflichtteilsrecht des Ehegatten resultiert aus § 2303 Abs. 2 BGB. Ist der Ehegatte geschieden, so erhält er, sofern er einen Unterhaltsanspruch oder -titel hat, von den Erben den Unterhalt nur so lange gezahlt, bis der fiktive Pflichtteil von 1/8 erreicht ist. Dabei hat der BGH in seiner Entscheidung vom 18.7.2007 entschieden, dass bei der Bemessung der Haftungsgrenze des § 1586 b Abs. 1 Satz 3 BGB auch (fiktive) Pflichtteilsergänzungsansprüche zu berücksichtigen sind, die dem Unterhaltsberechtigten gemäß § 2325 BGB gegen die Erben zustünden, wenn seine Ehe mit dem Unterhaltspflichtigen erst durch dessen Tod aufgelöst worden wäre. Gegenüber diesen (nur fiktiven) Pflichtteilsergänzungsansprüchen des Unterhaltsberechtigten können sich Erben, die selbst pflichtteilsberechtigt sind, noch nicht einmal auf § 2328 BGB berufen.
Des weiteren zeigt jedoch auch § 2325 Abs. 3 BGB, dass Ehegatten anders als Kinder im Pflichtteilsrecht weniger geschützt werden. Immerhin sind Zuwendungen oder Schenkungen an Ehegatten unabhängig von einer 10-Jahres-Frist immer pflichtteilsergänzungspflichtig.
Würde man also die Teilhabe des Ehegatten auf alle Zuwendungen ausdehnen, die der Erblasser innerhalb der letzten 10 Jahre nach Maßgabe des § 2325 BGB gemacht hat, auch auf Kurzzeitehen erweitern, würde der Sinn und Zweck der Norm des § 2325 BGB überspannt. Ein Ehegatte könnte somit an einem weggegebenen Vermögen partizipieren, das zum Zeitpunkt der Eheschließung nicht vorhanden war. Das Problem würde also durch eine Gleichbehandlung von nachrückenden Ehegatten mit den Abkömmlingen verschärft. So könnte also – bei unterstellter Gleichbehandlung von Abkömmlingen und nachrückenden Ehegatten – der neue Ehegatte an Zuwendungen an den vorverstorbenen Ehegatten partizipieren. Die Ansprüche würden sich dann z. B. gegen die Abkömmlinge und Erben des Erblassers und des vorverstorbenen Ehegatten richten, die durch die Eingehung der Zweitehe sogar schlechter gestellt würden, da dem ersten Ehegatten als Zuwendungsempfänger keine Pflichtteilsergänzungsansprüche zugestanden hätten. Ein abstruses und rechtspolitisch verfehltes Ergebnis.
Der BGH hat sich in seinem Urteil vom 23.5.2012 insbesondere auf Art. 3 Abs. 1 GG gestützt, wonach Kinder nicht dafür bestraft werden dürfen, dass sie – ohne eigenes Hinzutun – später geboren werden.
Nun stellt sich die Frage, ob es rechtlich richtig ist, Abkömmlinge und Eheleute im Pflichtteilsergänzungsrecht immer gleich zu behandeln. Dagegen spricht – wie oben dargelegt – u. a. die unterschiedliche Behandlung in § 2325 Abs. 3 BGB. Insbesondere aber auch der andere Schutzbereich rechtfertigt eine andere Behandlung, wobei es jedoch immer auf eine Einzelfallabwägung ankommt.
Das BVerfG führt zum Pflichtteilsrecht Folgendes aus: Art. 6 Abs. 1 GG enthält eine wertentscheidende Grundsatznorm für das gesamte die Familie betreffende private Recht (vgl. BVerfGE 6, 55 – 71 f – [BVerfG 17.1.1957 – 1 BvL 4/54]). …. Verfassungsrechtlichen Schutz genießt insofern die familiäre Verantwortlichkeit füreinander, die von der wechselseitigen Pflicht von Eltern wie Kindern zu Beistand und Rücksichtnahme geprägt ist, wie es auch der Gesetzgeber als Leitbild der Eltern-Kind-Beziehung in § 1618 a BGB statuiert hat (vgl. BVerfGE 57, 170 – 178 – [BVerfG 5.2.1981 – 2 BvR 646/80]). Auch bei den Beratungen im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates ging man bei der Frage, ob das Erbrecht in den Grundrechtskatalog aufgenommen werden soll, davon aus, dass das Erbrecht unter anderem der Erhaltung der Familie diene (vgl. Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Akten und Protokolle, Band 5/I, 1993, Ausschuss für Grundsatzfragen, bearbeitet von Pikart/Werner, S. 147 f). Die strukturprägenden Merkmale der Nachlassteilhabe von Kindern sind Ausdruck einer Familiensolidarität...