Leitsatz
Auch bei lebzeitiger Zuwendung von Grundbesitz unter Vorbehalt eines Wohnungsrechts an diesem oder Teilen hieran kann ausnahmsweise der Anlauf der Frist des § 2325 Abs. 3 BGB gehemmt sein.
BGH, Urteil vom 29. Juni 2016 – IV ZR 474/15
Sachverhalt
Der Kläger macht gegen die Beklagte Pflichtteilsergänzungsansprüche nach seinem am 16.8.2012 verstorbenen Vater (im Folgenden: Erblasser) geltend. Die Beklagte ist seine Mutter sowie die Ehefrau des Erblassers und dessen testamentarische Alleinerbin. Mit Vertrag vom 8.12.993 übertrugen der Erblasser und die Beklagte ein mit einem Wohnhaus bebautes Grundstück auf ihren zweiten Sohn, den Bruder des Klägers. Hierbei behielten sie sich als Gesamtberechtigte ein Wohnungsrecht an den Räumlichkeiten im Erdgeschoss vor, das auch die Mitbenutzung des Gartens, der Nebenräume sowie aller Leitungen und Anlagen zur Versorgung des Anwesens mit Wasser, Wärme, Energie und Entsorgung umfasste. Ferner wurde vereinbart, dass die Eltern die Garage weiterhin unentgeltlich nutzen konnten und der übernehmende Sohn das Grundstück zu ihren Lebzeiten weder veräußern noch darauf ohne ihre Zustimmung Um- oder Ausbaumaßnahmen vornehmen durfte. Auf die Absicherung der Veräußerungsbeschränkung in Form einer Rückauflassungsvormerkung wurde ausdrücklich verzichtet. Schließlich gestatteten die Eltern dem Übernehmer, Grundpfandrechte bis zur Höhe von 200.000 DM nebst Zinsen und Nebenleistungen für beliebige Gläubiger zur Eintragung im Rang vor dem Wohnungsrecht zu bewilligen. Die Grundbucheintragung erfolgte am 22.11.1994.
Der Kläger hält die Grundstücksübertragung für eine bei der Berechnung seines Pflichtteilsanspruchs zu berücksichtigende Schenkung. Er begehrt – soweit für das Revisionsverfahren noch von Belang – die Verurteilung der Beklagten, den Wert des Hausgrundstücks zu den Stichtagen 22.11.1994 und 16.8.2012 durch Vorlage eines Sachverständigengutachtens ermitteln zu lassen, sowie festzustellen, dass der Miteigentumsanteil des Erblassers an diesem Hausgrundstück der Pflichtteilsergänzung nach ihm unterliegt.
Das Landgericht hat die Klage insoweit abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung zurückgewiesen. Mit der hiergegen gerichteten Revision verfolgt der Kläger sein bisheriges Begehren weiter.
Aus den Gründen
Die Revision des Klägers hat keinen Erfolg.
I. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, dem Kläger stehe kein Pflichtteilsergänzungsanspruch wegen der Grundstücksschenkung aus dem Jahr 1993 zu, da die Zehnjahresfrist des § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB im Zeitpunkt des Erbfalls abgelaufen gewesen sei. Die Auffassung des Klägers, die Eltern hätten das Grundeigentum nur als "leere Hülle" übertragen und weiterhin die "volle Herrschaft" über das Anwesen behalten, sei überzogen und rechtlich nicht ausschlaggebend. Die Eltern hätten sich bei der Eigentumsübertragung zwar Rechte vorbehalten, dies aber nicht in einem Ausmaß, dass für sie mit der Übertragung keine spürbare Veränderung verbunden gewesen sei. Sie hätten nur ein räumlich eingeschränktes Wohnungsrecht an dem Grundstück behalten. Unbeachtlich sei, dass sie das Grundstück nach der Übergabe im Wesentlichen in dem Umfang wie zuvor genutzt hätten. Dies ändere nichts daran, dass sie über das Hausgrundstück nicht nur rechtlich nicht mehr hätten verfügen, sondern es auch nicht so hätten nutzen können, wie sie es für richtig hielten.
Der Gesetzgeber habe sich bei den Beratungen zur Ausschlussfrist des § 2325 Abs. 3 BGB ausdrücklich dagegen entschieden, den Fristbeginn bei Nutzungsvorbehalten zu verlegen. Diese Lösung vermeide Abgrenzungsschwierigkeiten und sorge für Rechtsklarheit sowie Rechtssicherheit. Zwar habe sich die Rechtsprechung – auch des Bundesgerichtshofs – von diesen Vorgaben distanziert und eine gegenläufige Linie eingeschlagen. Auch wenn man dem folge, ändere das im Ergebnis aber nichts. Die Verschiebung des Fristbeginns müsse jedenfalls auf Sachlagen beschränkt bleiben, die der Schenkung an den Ehegatten vergleichbar seien. So liege der Fall hier nicht. Im Hinblick auf den beschränkten Umfang des den Eltern eingeräumten Wohnungsrechts, den im Übergabevertrag vorgesehenen Ausschluss seiner Überlassung an Dritte und der dem Übernehmer eingeräumten Möglichkeit, die Immobilie in Höhe von 200.000 DM sogar im Rang vor dem Wohnrecht zu belasten, hätten sich der Erblasser und die Beklagte des "Genusses" des Hausanwesens in nicht unwesentlichem Umfang entäußert.
II. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
1. Gemäß § 2325 Abs. 1 BGB kann der Pflichtteilsberechtigte, wenn der Erblasser einem Dritten eine Schenkung gemacht hat, als Ergänzung des Pflichtteils den Betrag verlangen, um den sich der Pflichtteil erhöht, wenn der verschenkte Gegenstand dem Nachlass hinzugerechnet wird. Nach § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB, der hier nach Art. 229 § 23 Abs. 4 S. 2 EGBGB wegen des Erbfalls am 16.8.2012 Anwendung findet, wird die Schenkung innerhalb des ersten Jahres vor dem Erbfall in vollem Umfang, innerhalb jedes weiteren Jahres vor dem Erbfall um jeweils ein Zehntel weniger berücksichtigt. F...