“ … Die Berufung ist zulässig und insbesondere form- und fristgerecht begründet worden. Sie hat auch in der Sache Erfolg. Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf vollständigen Ausgleich des ihrem Versicherungsnehmer entstandenen und diesem auch erstatteten Schaden gem. § 7 StVG, § 823 BGB, § 3 PflVG, § 67 VVG. Die Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge gem. § 17 StVG, § 254 BGB führt zur alleinigen Haftung des Versicherungsnehmers der Beklagten.
Dieser hat den Unfall verschuldet, da er gegen die Vorfahrtregel des § 8 Abs. 1 S. 1 StVO “rechts vor links’ verstoßen hat.
Bei der Stichstraße (Lilienstraße), aus welcher der Versicherungsnehmer der Klägerin kam, handelt es sich um eine öffentliche Straße i.S.d. Straßenverkehrsgesetzes. In Ermangelung einer Beschilderung gilt für diese öffentliche Straße die Vorfahrtregelung “rechts vor links’. Für die Wartepflicht des von links kommenden Verkehrs nach § 8 Abs. 1 S. 1 StVO ist auf den optischen Gesamteindruck abzustellen, den die einmündende Straße bietet (vgl. BGH, Urt. v. 14.10.1986, NJW 1987, 435).
Auf Grund der sich bei der Akte befindlichen Farbphotographien konnte das Berufungsgericht feststellen, dass der einmündende Teil der Lilienstraße, welchen der Versicherungsnehmer der Klägerin befuhr, nicht nur für diesen als eine normale Straße erkennbar war. Auch für den Versicherungsnehmer der Beklagten konnte die Einmündung nach dem optischen Gesamteindruck nur als vorfahrtberechtigte Straße wahrgenommen werden. Dies ergibt sich sowohl aus der Breite der einmündenden Straße – sie weist eine normale Straßenbreite auf –, die schwerlich auf eine Grundstückseinfahrt schließen lässt. Die Breite der einmündenden Straße war auch für einen von links kommenden Fahrer gut erkennbar. Denn die Unfallkreuzung war auf Grund des sich auf seiner Fahrseite befindlichen breiten Gehweges und des dadurch weit zurückgesetzten an der Kreuzung liegenden Grundstückes gut einsehbar. Die Straße ist auch durch ein Straßenschild gekennzeichnet, das für den sich von links nähernden Verkehr gut sichtbar ist. Eine Zu- oder Ausfahrt trägt hingegen kein Straßenschild. Zudem wird der Gehweg, der sich auf dem Abschnitt der Lilienstraße, den der Versicherungsnehmer der Beklagten befuhr, befindet, nicht weitergeführt über den einmündenden Teil der Lilienstraße, den der Versicherungsnehmer der Klägerin befuhr. Gerade ein weitergeführter Gehweg mit abgeflachten Bordsteinen kennzeichnet üblicherweise eine einmündende Zufahrt. Auch ist die Pflastersteinreihe, welche die Stichstraße Lilienstraße optisch von der Lilienstraße trennt, ebenerdig in den Teerbelag eingearbeitet, um einen riss- und wartungsfreien Anschluss an den bereits bestehenden Teerbelag herstellen zu können. Nach Auffassung der Kammer bot sich für den Versicherungsnehmer der Beklagten auch auf Grund dieser Pflasterung keinesfalls der optische Eindruck einer Grundstücksausfahrt.
Wegen der optischen Gegebenheiten hätte der Versicherungsnehmer der Beklagten in einer derartigen Situation, wenn die Vorfahrtregelung nach seiner Auffassung nicht eindeutig zu seinen Gunsten spricht, von der Rechtsbedeutung ausgehen müssen, die ihm ungünstiger ist und ihm eine höhere Sorgfalt abverlangt (vgl. BGH a.a.O.).
Der Versicherungsnehmer der Beklagten hätte von diesem Zeitpunkt an, in dem er von der Fragwürdigkeit seines ersten optischen Eindrucks von einem eigenen Vorfahrtrecht ausgehen musste, seine Geschwindigkeit herabsetzen, bremsbereit sein und den herannahenden Pkw genau beachten müssen, um gegebenenfalls durch eine Notbremsung den Unfall zu vermeiden.
Demgegenüber vermag die Kammer ein Verschulden des klägerischen Versicherungsnehmers nicht zu erkennen. Es bestand auf Grund der oben dargelegten optischen Merkmale der Unfallkreuzung gerade keine unklare Verkehrslage, die gem. der in § 11 Abs. 3 StVO konkretisierten Grundpflicht der ständigen Vorsicht und gegenseitigen Rücksichtnahme eine Wartepflicht des oben Genannten verlangt hätte.
Er durfte demzufolge auf die Beachtung seines Vorfahrtrechtes vertrauen.
Die Betriebsgefahr des Fahrzeuges des klägerischen Versicherungsnehmers tritt hinter dem Vorfahrtverstoß des Fahrzeuges des Versicherungsnehmers der Beklagten zurück.“
Mitgeteilt von RA Jochen Link, Villingen-Schwenningen