Prof. Dr. Roland Rixecker
1. Regelungen und Randbereiche
Neue Gesetze erlauben selten einfachere Antworten auf die gleichen Fragen als ihre Vorgänger. Daher kann nicht überraschen, dass die Aufgabe des Alles-oder-Nichts-Prinzips durch das seit dem 1.1.2008 geltende VVG die praktische Regulierung möglicherweise flexibler gestaltet, sie rechtlich jedoch kompliziert hat. Um die Dimension der Probleme richtig einschätzen zu können, muss man sie jedoch vorab in dem Zusammenhang der durch das neue Recht beabsichtigten Verbesserungen der Rechtsstellung der Versicherungsnehmer sehen:
- Das Prinzip der quotierten Entschädigung gilt gleichermaßen für die Herbeiführung des Versicherungsfalls wie für die Gefahrerhöhung und die Verletzung von Obliegenheiten vor und nach dem Versicherungsfall einschließlich des Anspruchs auf Ersatz von Rettungskosten. In vor allem beweisrechtlichen Einzelheiten unterscheiden sich allerdings die Voraussetzungen der (teilweisen) Leistungspflicht.
- Vermag der Versicherer, wie ihm nach neuem Recht stets obliegt, dem Versicherungsnehmer Vorsatz nachzuweisen, ist er nicht leistungspflichtig. Daher führt in der Kraftfahrtversicherung das unerlaubte Entfernen vom Unfallort stets (!) zur Leistungsfreiheit, weil § 142 StGB als "gesetzliche" Obliegenheit nur vorsätzlich verwirklicht werden kann.
- Grobe Fahrlässigkeit muss der Versicherer beweisen, beruft er sich auf § 81 VVG, der Versicherungsnehmer muss sie widerlegen, will er gegen den Vorwurf einer Obliegenheitsverletzung, bei Gefahrerhöhung oder bei Geltendmachung von Rettungskostenersatz die volle Entschädigung erhalten.
Das Gesetz erlaubt dem Versicherungsnehmer nunmehr auch bei vorsätzlicher Verletzung einer (vor allem Aufklärungs-)Obliegenheit nachzuweisen, dass sie weder für den Eintritt noch für die Feststellung des Versicherungsfalls noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht ursächlich ist.
Manche Stimmen sehen darin – auf der Grundlage einer in der Tat missverständlichen Äußerung des Regierungsentwurfs – lediglich die Übernahme der Relevanzlehre. Das hätte zur Folge, dass in Wirklichkeit nicht nach der "konkreten" Kausalität der Obliegenheitsverletzung für vom Versicherer erlittene Nachteile gefragt würde. Genau das aber entspricht dem Wortlaut und auch dem Sinn des Gesetzes. Schon der Vergleich der unterschiedlichen Zeitformen der Kausalitätsregelung in § 6 Abs. 3 VVG a.F. und in § 28 Abs. 3 VVG zeigt, dass es nur auf "noch" denkbare Nachteile für den Versicherer ankommt. Das entspricht auch dem Bemühen, das Versicherungsvertragsrecht soweit wie möglich dem allgemeinen Zivilrecht anzunähern, das die Verletzung von Verhaltenspflichten in aller Regel nur sanktioniert, wenn sie zu einem Schaden des Gläubigers geführt haben oder noch führen können. Veranschaulichend gesagt: Hat der Versicherungsnehmer einen Vorschaden verschwiegen und erfährt der Versicherer davon, bevor er reguliert, bleibt das Fehlverhalten des Versicherungsnehmers sanktionslos, solange nicht, wie allerdings künftig häufiger geprüft werden muss, Arglist vorliegt.
- Schließlich: Dass die Regel gilt "Quote vor Regressbegrenzung" ist nicht nur selbstverständlich sondern auch allgemeine Meinung. Das heißt: Zuerst wird festgestellt, welche Leistung der Versicherer nach der Quotenbildung dem Versicherungsnehmer schuldet. Von ihr darf er nur den Regresshöchstbetrag verlangen.
2. Grobe Fahrlässigkeit
Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, ob sich "der Begriff" der groben Fahrlässigkeit unter den neuen Regelungen der Quotenbildung ändern wird. Die Frage ist falsch gestellt. Selbstverständlich wird auch künftig – einheitlich für das gesamte Zivilrecht – gelten, dass grob fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt in ungewöhnlich hohem Maße verletzt und unbeachtet lässt, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen; und auch in subjektiver Hinsicht muss es sich um ein unentschuldbares Fehlverhalten handeln, das ein gewöhnliches Maß erheblich überschreitet. Jenseits dieser Abstraktion darf indessen nicht verkannt werden, dass richterliche Wertungen von ihren Folgen beeinflusst werden. Die tatrichterliche Einschätzung des Gewichts eines Vorwurfs hängt, wenn man redlich ist, davon ab, welche Sanktion aus ihr folgt.
Eine Annahme grober Fahrlässigkeit, die dazu führt, einen Anspruch vollständig zu versagen, fällt schwerer, als jene, die es erlaubt, Strenge mit Milde zu verbinden. In den bisherigen Grenzbereichen des "entweder-oder" – dem Überfahren eines Rotlichts in besonderen Verkehrslagen, der unzulänglichen Sicherung eines abgestellten Kraftfahrzeugs gegen Wegrollen, der Ablenkungen während der Fahrt – wird es leichter fallen, von einem schle...