Alles ist machbar?!
Zum Beginn eines neuen Jahrzehntes ist die Beschäftigung mit der Frage zukünftiger juristischer Entwicklungen fast ein Pflichtprogramm. Dies erfordert allerdings keine hellseherischen Fähigkeiten, sondern die Analyse beginnender Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit, Erkenntnis von sich daraus ergebenden Mustern und Projektion dieser Ergebnisse auf die Zukunft.
Juristische Probleme müssen mit rechtsstaatlichen Mitteln gelöst werden – der Satz sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber leider immer häufiger nicht mehr. Eine andere Lösungsmöglichkeit drängt sich immer mehr in den Vordergrund: Die Entscheidung nach dem Wünschenswerten, auch wenn die Gesetzeslage dem entgegensteht.
Zuerst ein brandaktueller Fall, den der BGH rechtsstaatlich gelöst hat, dafür aber von der Öffentlichkeit fast zerrissen wird: Die Entscheidung vom 13.1.2010 gegen eine Sicherungsverwahrung für einen Kinderschänder. Obwohl dieses Urteil juristisch so eindeutig ist, dass der Senat den Zuhörern einen Ausdruck des Gesetzestextes vor der Urteilsverkündung aushändigen ließ, kann ein großer Teil der Bevölkerung nicht nachvollziehen, dass auch ein verurteilter Kinderschänder Rechte hat. Die privaten Kommentare der Leser der Online-Zeitschriften sind teilweise erschreckend. Um kein Missverständnis entstehen zu lassen: Auch ich möchte nicht mit kleinen Kindern im gleichen Ort mit ihm wohnen. Wünschenswert ist die Sicherungsverwahrung allemal. Aber gegen die Rechtslage?
Die Medien, von den Vätern des Grundgesetzes noch als die Hüter des Rechtsstaats angesehen, bemühen sich kaum noch, der Leserschaft rechtliche Zusammenhänge verständlich zu machen. Sie schüren einen öffentlichen Erwartungsdruck nach dem Wünschenswerten, um die nachrichtliche Unterhaltungsindustrie möglichst mit täglichen Fortsetzungsgeschichten aufrecht zu erhalten. Der BGH Senat hat sich vor dem Hintergrund des so aufgebauten Erwartungsdrucks wohl quasi als Entschuldigungsgeste zur Verteilung des Gesetzestextes entschlossen. Wie lange wird er dem Druck noch standhalten können?
Jörg Elsner
Auch Fragen nach der Schadensregulierung können juristisch oder nach dem Wünschenswerten gelöst werden. Der Preiskampf der Versicherer auf dem Kraftfahrzeug Haftpflichtmarkt ist heftig. Die Fernseh- und Radiowerbespots der letzten Monate des vergangenen Jahres belegen das. Die Versuchung liegt da natürlich nahe, günstige Versicherungsprämien durch zu geringen Schadensausgleich zu finanzieren. Ein Teil der Geschädigten merkt das nicht, weil er sich nicht anwaltlich vertreten lässt, ein anderer klagt nicht dagegen, weil er das Prozessrisiko finanziell nicht tragen kann. Es trifft also die wirtschaftlich schlechter gestellte Bevölkerung, und damit eine sehr große Anzahl der Geschädigten. Unter dem Strich zählt das betriebswirtschaftliche Ergebnis und das muss wohl besser ausfallen, wenn nicht das juristische Ergebnis, sondern das Machbare der Regulierung des Schadens zugrunde gelegt wird. Soll aber denn die Versicherungsgesellschaft den größten wirtschaftlichen Erfolg erzielen, die sich am wenigsten an die Rechtslage hält?
Gerade bei dem Personenschaden werden nach meinem Eindruck außergerichtliche Zahlungen für Schmerzensgeld und Haushaltsführungsschaden immer mehr gekürzt.
Die bestehenden Rechte werden also immer weniger freiwillig gewährt und letztlich nur denjenigen tatsächlich eingeräumt, die die Kürzung erkennen können und wirtschaftlich zur Durchsetzung des vollen Anspruchs in der Lage sind. Die betroffenen Geschädigten erfahren dabei immer weniger das Verständnis der restlichen Öffentlichkeit. Denn sie sind zahlenmäßig immer in der Minderheit gegenüber dem Rest der Bevölkerung, die gerade keinen Schaden erlitten hatte und lieber niedrigere Prämien wünscht.
Das Machbare und Wünschenswerte wird zunehmend Richtschnur für Entscheidungen sein, die immer häufiger Betriebswirte statt Juristen treffen. Aufgabe der Juristen wird m.E. die Verteidigung des erreichten Rechtsstaats und Rechtsstandards sein. Die Richter müssen das Recht gegen öffentlich geschürte Erwartungshaltungen durchsetzen. Rechtsanwälte haben die Aufgabe, außergerichtlich nicht gewährte Rechte und Ansprüche durchzusetzen und damit auch Kostendruck auszuüben auf die Unternehmen, die auf die Macht der normativen Kraft des Faktischen setzen. Arbeiten Sie daran mit!
Jörg Elsner LL.M. Rechtsanwalt und Notar Vorsitzender des Geschäftsführenden Ausschusses der ARGE Verkehrsrecht