GG Art. 103 Abs. 1
Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist verletzt, wenn vom AG
1) bei erlaubter Abwesenheit des Betroffenen Beweismittel herangezogen und verwertet werden, von denen er sowie sein Verteidiger, der ebenfalls an den verschiedenen Hauptverhandlungsterminen nicht teilgenommen hatte, keine Kenntnis hatte und auf die sich die Verteidigung daher nicht einrichten konnte.
2) gerichtskundige Tatsachen – hier Erfahrung und Zuverlässigkeit eines Zeugen – verwertet werden, ohne dass solche Tatsachen dem Betroffenen im Abwesenheitsverfahren schon vor der Hauptverhandlung unter Mitteilung der Einführungsabsicht als gerichtskundige Tatsachen bekannt gemacht werden.
(Leitsatz der Schriftleitung)
OLG Stuttgart, Beschl. v. 1.10.2009 – 5 Ss 1369/09
Das AG hat den Betroffenen am 15.6.2009 wegen fahrlässiger Überschreitung der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 50 EUR verurteilt und außerdem gem. § 25 StVG ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen hebt das OLG das Urteil des AG mit den Feststellungen auf und verweist die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des AG zurück.
Aus den Gründen:
“ … Der Betroffene beanstandet mit seiner ordnungsgemäß erhobenen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG) Verfahrensrüge zu Recht, dass sein Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) dadurch verletzt worden ist, dass vom AG bei erlaubter Abwesenheit des Betroffenen Beweismittel herangezogen und verwertet wurden, von denen er sowie sein Verteidiger, der ebenfalls an den verschiedenen Hauptverhandlungsterminen nicht teilgenommen hatte, keine Kenntnis hatten und auf die sich die Verteidigung daher nicht einrichten konnte.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat zur Begründung ihres Antrags, auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen das angefochtene Urteil aufzuheben, u.a. folgendes ausgeführt:
I. Die Verfahrensrüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch die unterlassene Namhaftmachung von Beweismitteln entspricht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Der Betroffene hat dargelegt, dass er von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen in der Hauptverhandlung entbunden war und auch sein Verteidiger an der Hauptverhandlung nicht teilgenommen hat, welche Beweismittel ihm durch die Ladungen bekannt waren und welche Beweiserhebungen das Gericht durchgeführt und zur Bildung seiner Überzeugung verwertet hat. Ferner hat er dargelegt, dass er den vernommenen Zeugen und Sachverständigen ‘eingehend befragt’ hätte. Zwar wird nicht näher ausgeführt, welche Fragen gestellt worden wären; angesichts dessen, dass sich aus der Rechtsbeschwerdeschrift selbst ergibt, dass der Betroffene schon vor der Hauptverhandlung die Ordnungsgemäßheit der Messung bestritten hat, erscheint dies vorliegend noch ausreichend. Schließlich hat er hinreichend deutlich ausgeführt, dass und inwiefern das Urteil auf dem Verfahrensfehler beruhen kann.
II. In der Rspr. ist anerkannt, dass der durch Art. 103 Abs. 1 GG garantierte Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs und die prozessuale Fürsorgepflicht des Gerichts in einem Fall wie vorliegend, in dem der Betroffene von der Verpflichtung zum persönlichen Erscheinen entbunden worden war und auch der Verteidiger am Termin nicht teilnahm, die Unterrichtung des Betroffenen erfordert, wann welcher Zeuge oder Sachverständige zu welchem Beweisthema vernommen werden soll und welche relevanten Urkunden in das Verfahren eingeführt werden sollen. Es dürfen zum Nachteil des Betroffenen nur Beweismittel verwertet werden, die entweder im Bußgeldbescheid aufgeführt, ihm mit der Ladung mitgeteilt oder vor der Verhandlung bekannt gemacht worden sind. Beabsichtigt der Richter die Einführung und Verwertung von Beweismitteln, zu denen sich der Betroffene bisher noch nicht äußern konnte, muss er die Verhandlung unterbrechen oder aussetzen und den Betroffenen und dessen Verteidiger entsprechend unterrichten, damit der Betroffene die Gelegenheit zur Äußerung erhält (vgl. KK-Senge, OWiG, 3. Aufl., § 74 Rn 13 m.w.N.). Ein Verstoß gegen diese Grundsätze begründet die Rechtsbeschwerde.
… Jedenfalls durch die Verlesung des Schreibens der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt vom 11.5.2009 und die Vernehmung des Zeugen Sch sowie der Verwertung dieser Beweismittel im Urteil zu Ungunsten des Betroffenen wurde das Urteil auf diesem nicht bekannte Beweismittel gestützt. Der Akte lässt sich nicht entnehmen, dass der Betroffene oder dessen Verteidiger von dem Schreiben der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt, welches in der Hauptverhandlung vom 15.6.2009 verlesen wurde, Kenntnis erlangt hatten oder wussten, dass die entsprechende Urkunde in diesem Termin verlesen werden würde. Gleiches gilt die Vernehmung des Zeugen Sch. Er wurde weder im Bußgeldbescheid noch in einer der dem Betroffenen zugegangenen Ladungen benannt. Die Mitteilung von der Ladung des Zeugen Sch wurde auch nicht dadurch entbehrlich, dass ausweislich des Vermerks ...