StGB §§ 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 3 Nr. 2
Leitsatz
1. Die Annahme einer Tat nach § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a, Abs. 3 Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt hat, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht. (Rn 3)
2. Hinsichtlich der Gefährdung eines Mitfahrers durch ein Unfallgeschehen genügt die knappe Bemerkung in den Urteilsfeststellungen "dadurch gefährdete er …" nicht den Anforderungen an die Darlegung einer konkreten Gefahr. Vielmehr bedarf es zur Annahme einer konkreten Gefahr der mit Tatsachen belegten Feststellung eines Vorgangs, bei dem es beinahe zu einer Verletzung des Mitfahrers gekommen wäre, also eines Geschehens, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, "das sei noch einmal gut gegangen". (Rn 3)
BGH, Beschl. v. 16.4.2012 – 4 StR 45/12
Sachverhalt
Das LG hat den Angekl. wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes in fünf Fällen, fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässigem Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie unerlaubten Entfernens vom Unfallort zu der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt; ferner hat es die Verwaltungsbehörde angewiesen, dem Angekl. vor Ablauf von acht Monaten keine Fahrerlaubnis zu erteilen. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angekl. Das Rechtsmittel führt zu einer teilweisen Verfahrenseinstellung nach § 154 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO. Im Übrigen ist es unbegründet i.S.d. § 349 Abs. 2 StPO.
2 Aus den Gründen:
[2] 1. Der Senat stellt das Verfahren aus prozessökonomischen Gründen gem. § 154 Abs. 2 StPO ein, soweit der Angekl. in den Fällen II. 4 und 5 der Urteilsgründe wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs in Tateinheit mit fahrlässigem Fahren ohne Fahrerlaubnis sowie wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort verurteilt worden ist. Insb. tragen die bisherigen Feststellungen des LG nicht den Schuldspruch aus § 315c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 2 StGB.
[3] a) Die Feststellungen belegen nicht die für die Annahme einer Tat nach § 315c Abs. 1 Nr. 1a, Abs. 3 Nr. 2 StGB vorausgesetzte Herbeiführung einer konkreten Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen oder eine fremde Sache von bedeutendem Wert. Nach gefestigter Rspr. muss die Tathandlung über die ihr innewohnende latente Gefährlichkeit hinaus in eine kritische Situation geführt haben, in der – was nach allgemeiner Lebenserfahrung aufgrund einer objektiv nachträglichen Prognose zu beurteilen ist – die Sicherheit einer bestimmten Person oder Sache so stark beeinträchtigt war, dass es nur noch vom Zufall abhing, ob das Rechtsgut verletzt wurde oder nicht (BGH, Urt. v. 30.3.1995 – 4 StR 725/94, NJW 1995, 3131 f., zu § 315c StGB; Beschl. v. 4.9.1995 – 4 StR 471/95, NJW 1996, 329 f., zu § 315b StGB; vgl. weiter SSW-Ernemann, StGB, § 315c Rn 22 ff.). Da für den Eintritt des danach erforderlichen konkreten Gefahrerfolgs das vom Angekl. geführte fremde Fahrzeug nicht in Betracht kommt (vgl. BGH, Urt. v. 28.10.1976 – 4 StR 465/76, BGHSt 27, 40; Beschl. v. 19.1.1999 – 4 StR 663/98, NStZ 1999, 350, 351), auch nicht erkennbar ist, ob der – allein maßgebliche – Gefährdungsschaden an Laterne und Baum die tatbestandsspezifische Wertgrenze erreicht (vgl. BGH, Beschl. v. 28.9.2010 – 4 StR 245/10, NStZ 2011, 215; SSW-Ernemann, StGB, § 315c Rn 25), kommt es auf die Gefährdung der Beifahrerin an. Nach den in der Rspr. des Senats entwickelten Maßstäben genügt die hierauf bezogene knappe Bemerkung des LG ("Dadurch gefährdete er H. ( … ).") nicht den Anforderungen zur Darlegung einer konkreten Gefahr. Einen Vorgang, bei dem es beinahe zu einer Verletzung der Mitfahrerin gekommen wäre – also ein Geschehen, bei dem ein unbeteiligter Beobachter zu der Einschätzung gelangt, "das sei noch einmal gut gegangen" (Senat, Urt. v. 30.3.1995 und Beschl. v. 4.9.1995 – jew. a.a.O.; Beschl. v. 26.7.2011 – 4 StR 340/11, StV 2012, 217) – hat die Strafkammer auch nach dem Gesamtzusammenhang ihrer auf das Unfallgeschehen bezogenen Feststellungen nicht hinreichend mit Tatsachen belegt.
[4] b) Nach den bisherigen Feststellungen bleibt zudem offen, ob die Beifahrerin des Angekl. vom Schutzbereich des § 315c StGB überhaupt erfasst ist. Nach gefestigter Rspr. des BGH ist dies für an einer solchen Straftat beteiligte Insassen des Fahrzeugs zu verneinen (BGH, Urt. v. 23.2.1954 – 1 StR 671/53, BGHSt 6, 100, 102, v. 28.10.1976 – 4 StR 465/76, BGHSt 27, 40, 43, und v. 20.11.2008 – 4 StR 328/08, NJW 2009, 1155, 1157; vgl. SSW-Ernemann, StGB, § 315c Rn 24 m.w.N.). Die Mitfahrerin könnte sich mit der an den Angekl. gerichteten Aufforderung, "auch einmal zu fahren" (UA 7), der Anstiftung gem. § 26 StGB schuldig gemacht haben. Zwar ist der Angekl....