Immer wieder kommt es vor, dass Amtsgerichte vorschnell Betroffene aufgrund der Angaben eines Polizeibeamten als Zeugen bei Rotlichtverstößen verurteilen und zu Fahrverboten bei mehr als 1 Sekunde Rotlichtzeit kommen. Wegen der erheblichen Konsequenzen für die Betroffenen sollte die Verteidigung hier sorgfältig prüfen, ob die Voraussetzungen für einen qualifizierten Rotlichtverstoß tatsächlich vorliegen. Das kann bei Zeugenaussagen sehr problematisch sein:
Zunächst geht es um die Zeitdauer ab Passieren der Haltelinie. Diese dürfte regelmäßig vorhanden sein. Dann ist sie für die Bemessung der Rotlichtdauer grds. maßgebend (vgl. OLG Köln NZV 2004, 651). Ein Abstellen auf das Passieren der Ampel wäre demgegenüber rechtsfehlerhaft.
Die Obergerichte verlangen von den Amtsgerichten eine nachvollziehbare Darlegung der Feststellungen aus dem Beweisergebnis. In den Urteilsgründen muss die von den Zeugen angewandte Messmethode dargestellt werden und sie ist hinsichtlich ihrer Beweiskraft zu werten, ggf. auch kritisch zu werten mit Abschlägen (vgl. OLG Hamm, Beschl. v. 18.7.2019 – 4 RBs 185/19, BeckRS 2019, 26803).
Zwar ist es grds. möglich, dass der Tatrichter seine sichere Überzeugung aufgrund von Angaben eines den Tathergang beobachtenden Polizeibeamten, der die Dauer der Rotlichtphase lediglich schätzen kann, gewinnt. Das dürfte vor allem bei einer gezielten Rotlichtüberwachung gelten. Aber auch bei dieser – genauso wie noch viel mehr bei der zufälligen – Beobachtung muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die Schätzung eines Zeitablaufs allgemein mit hoher Unsicherheit behaftet ist (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 4.11.2002 – 2b Ss (OWi) 216/02 – (OWi) 68/02 I; OLG Hamburg NZV 2005, 209).
Die Schätzung durch Mitzählen ("21, 22, …") genügte für die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes bei gezielter Beobachtung (OLG Brandenburg DAR 1999, 512). Eine Schätzung der Dauer der Rotlichtzeit durch Zeugen aufgrund des beobachteten Geschehens ist durch die Verteidigung sehr kritisch zu hinterfragen. Eine konkrete Messmethode des Zeugen zur Vermeidung von Schätzfehlern lässt sich dann nämlich nicht feststellen.
Freie Schätzungen aufgrund gefühlsmäßiger Erfassung sind zur Feststellung von Zeitintervallen im Sekundenbereich aber generell ungeeignet, da Zeitschätzungen wegen der Ungenauigkeit menschlichen Zeitgefühls i.d.R. mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet sind (BayObLG, Beschl. v. 19.6.2002 – 1ObOWi 79/02, zitiert nach juris). Es bedarf in einem solchen Fall einer Darlegung tatsächlicher Anhaltspunkte, die eine Überprüfung der Schätzung auf ihre Zuverlässigkeit zulassen, wie beispielsweise der Zählweise beim Mitzählen, der Geschwindigkeit des Betroffenen, seiner Entfernung von der Haltelinie bei Lichtwechsel auf Rot (OLG Köln NZV 2004, 651; OLG Hamm, a.a.O., Rn 15).
Für die Verteidigung ist wichtig zu wissen, dass, selbst wenn aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen davon ausgegangen werden könnte, dass der Betroffene jedenfalls gegen § 37 Abs. 2 Nr. 1 S. 7 StVO verstoßen haben könnte (einfacher Rotlichtverstoß), das Urteil insgesamt aufgehoben werden muss, da die Frage, ob es sich um einen qualifizierten oder einfachen Rotlichtverstoß handelt, den Schuldumfang betrifft und die hierzu zu treffenden Feststellungen untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft sind.