"Es besteht ein Anspruch auf Überlassung des Gutachtens. Anspruchsgrundlage ist § 810 1. Alt. BGB (LG Dortmund NJW-RR 2008, 1483; LG Oldenburg, Urt. v. 9.12.2011, 13 O 1604/11, zitiert nach juris;" Gehrlein, BeckOK BGB, 43. Ed. 15.6.2017, BGB § 810 Rn 2).
Zudem ergibt sich das Recht zur Einsichtnahme als Nebenanspruch aus dem Versicherungsvertrag i.V.m. § 242 BGB. Einen solchen allgemeinen Auskunftsanspruch billigt die Rechtsprechung dem VN zu, wenn er auf die Auskunft des Versicherers angewiesen ist und dieser mit der Pflicht zur Herausgabe nicht unbillig belastet wird. Ein rechtlich schützenswertes Interesse an der Auskunft besteht, wenn sich derjenige, der sie begehrt, ohne Mitwirkung des Auskunftsersuchten nicht ausreichend informieren kann. Der Berechtigte muss die zu erforschenden Tatsachen für die Substantiierung seines Vortrags in der Hauptsache zwingend benötigen, ohne sie anderweitig erlangen zu können (LG Saarbrücken, VersR 2021, 888 [892]). Der Versicherer ist unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit zwischen den Vertragspartnern dazu verpflichtet, dem Versicherungsnehmer Einsicht in das Sachverständigengutachten zu gewähren. Der Versicherer kann sich nicht einerseits auf die Mitwirkungspflicht bzw. auf Obliegenheitsverletzungen berufen und andererseits dem Versicherungsnehmer den geltend gemachten Anspruch auf Einsichtnahme des Gutachtens verweigern (AG Siegen, Urt. v. 8.6.2012, Az. 3 C 15/12).“
Immer wieder kommt es vor, dass der eigene Versicherer – insbesondere im Bereich der Kasko- und der allgemeinen Haftpflichtversicherung – seine Eintrittspflicht verweigert und ein von ihm eingeholtes Gutachten nicht an seinen VN zur Kenntnis überlässt. Diese Vorgehensweise widerspricht sowohl dem Gesetz als auch den Grundlagen des jeweiligen Vertrages. Dies gilt selbstverständlich nicht für die Fällen, in denen der Versicherer wegen eines Betrugsverdachtes nicht reguliert und das Gutachten, das den Verdacht unter Umständen erhärtet oder sogar beweist, nicht herausgegeben wird.
Der Anspruch auf Herausgabe eines vom Versicherer eingeholten Gutachtens besteht unabhängig von der Art des Versicherungsverhältnisses.
Auch das OLG Saarbrücken bejahte mit Urt. v. 22.4.2020, 5 U 55/19, einen Anspruch gegen den eigenen Kaskoversicherer:
Zitat
"Zwar bestand zwischen den Parteien ein Versicherungsvertrag und damit ein Schuldverhältnis, das die Bekl. nicht nur zur Gewährung von Versicherungsschutz (§ 1 S. 1 VVG), sondern nach seinem Inhalt auch zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Kl. verpflichtete (vgl. § 241 II und § 242 BGB;" Armbrüster in Prölss/Martin, § 1 Rn 137). In Anwendung dieser Grundsätze kann ein Versicherer nach den Umständen auch verpflichtet sein, dem Versicherungsnehmer Einsicht in ein von ihm eingeholtes Sachverständigengutachten zu gewähren. Der Rechtsgedanke, dass einer dem Versicherungsnehmer obliegenden Verpflichtung auf Untersuchung ein Recht auf Auskunft über und eine Einsicht in das Untersuchungsergebnis gegenübersteht, ist zwar nur in § 202 VVG für die private Krankenversicherung kodifiziert worden, kann aber auch sonst von Bedeutung sein, soweit die Feststellungen zum Geschehensablauf, zur Schadenshöhe oder – wie hier – zu den erforderlichen Maßnahmen der Schadensbeseitigung betroffen sind (vgl. BGHZ 121, 284 = NJW 1993, 1532; Senat NJW-RR 1999, 759 = VersR 1999, 750; Armbrüster in Prölss/Martin, Einl. Rn 249). Dementsprechend ist im Rahmen eines lauteren und vertrauensvollen Zusammenwirkens der Vertragspartner, das auf Ergebnisse abzielt, die den Tatsachen und der Rechtslage entsprechen (BGH; vgl. auch Armbrüster in Prölss/Martin, Einl. Rn 249: "Kooperationsgebot"), eine vertragliche Verpflichtung des Versicherers, seinem Versicherungsnehmer Einsicht in das von ihm eingeholte Schadensgutachten zu gewähren, im Grundsatz durchaus anzuerkennen; ob daneben noch Raum für andere gesetzliche Ansprüche (z.B. § 810 BGB; dazu Armbrüster VersR 2013, 944 [948]), m.w.N.) verbleibt, kann dann offenbleiben.“
(so auch das OLG Schleswig, Urt. v. 13.7.2020, 16 U 137/19)
Das Amtsgericht Andernach erkannte mit Beschl. v. 21.7.2021, 61 C 215/21, den Herausgabeanspruch auch im Rahmen einer privaten Haftpflichtversicherung zu.
Der Anspruch auf Herausgabe besteht auch im Rahmen einer Elementarversicherung (LG Dresden, Urt. v. 27.11.2013, 8 S 269/13) oder der Wohngebäudeversicherung (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 26.4.2005, 12 W 32/05).
Autor: Jens Dötsch
RA Jens Dötsch, FA für Verkehrsrecht und für Versicherungsrecht
zfs 1/2022, S. 3