VVG § 174; AVB-BU § 2 § 13
Leitsatz
Stellen die AVB weder im Zusammenhang mit der Definition der Berufsunfähigkeit noch hinsichtlich des Nachprüfungsverfahrens auf Kenntnisse und Fähigkeiten ab, so ist es dem VR nicht verwehrt, den VN auf eine solche Tätigkeit zu verweisen, die er infolge einer nach Anerkennung der Leistungspflicht vollzogenen Umschulung oder Weiterbildung ausübt. Für die Nachprüfungsentscheidung kommt es in einem solchen Fall in materieller Hinsicht nur auf die Wahrung der bisherigen Lebensstellung und die gesundheitlichen Voraussetzungen an.
OLG Nürnberg, Urt. v. 7.11.2022 – 8 U 2115/20
1 Sachverhalt
Die Parteien streiten über Leistungen aus einer selbstständigen Berufsunfähigkeitsversicherung, der übliche AVB-BV zugrunde lagen.
Seit dem 1.9.2008 war der damals 25-jährige Kl. wegen eines Bandscheibenvorfalls mit anschließender Operation der Lendenwirbelsäule nicht mehr in der Lage, seine berufliche Tätigkeit als Anlagenmechaniker (Schweißer im Rohr- und Behälterbau) auszuüben. Die Bekl. erkannte ihre Leistungspflicht rückwirkend zum 1.9.2008 zunächst an. Im Anschluss an entsprechende Nachprüfungen teilte die Bekl. dem Kl. mit Schreiben vom 18.12.2013 und vom 14.6.2016 mit, dass die Leistungen weiter erbracht werden. Nach erfolgter Weiterbildung und Umschulung war der Kl. als Maschinenbautechniker und Konstrukteur tätig, zuletzt seit Januar 2017 bei der Fa.M. Im Zuge einer erneuten Nachprüfung mit ärztlicher Untersuchung teilte die Bekl. dem Kl. mit Schreiben vom 11.4.2017 mit, dass sie ihre Leistungen ab 1.6.2017 einstellen werde. Ein bedingungsgemäßer Grad der Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % werde mit Aufnahme der neuen Tätigkeit seit Januar 2017 nicht mehr erreicht. Diese neue Tätigkeit sei dem Kl. zumutbar und wahre dessen Lebensstellung.
2 Aus den Gründen:
1. Die Klage ist unbegründet. Der Kl. hat für den Zeitraum ab 1.6.2017 keinen Anspruch auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung gemäß § 1 Abs. 1 Buchst. a und b AVB-BU. Denn die Bekl. hat ihre Leistungen gemäß § 13 Abs. 4 AVB-BU wirksam eingestellt.
Die Bekl. hatte ihre Leistungspflicht zuletzt im Rahmen eines Nachprüfungsverfahrens am 14.6.2016 unbefristet anerkannt. Die Beendigung der Leistungspflicht richtete sich ebenfalls nach den Regeln des Nachprüfungsverfahrens.
a) Das Schreiben der Bekl. vom 11.4.2017 genügt den formellen Anforderungen. Nach § 13 Abs. 4 Satz 2 Halbsatz 1 AVB-BU hat der VR dem VN eine Mitteilung darüber zu machen, dass die bereits anerkannte Leistungspflicht wieder enden soll. Voraussetzung der Wirksamkeit einer solchen Mitteilung ist deren Nachvollziehbarkeit, also grundsätzlich eine Begründung, aus der für den Versicherten nachvollziehbar wird, warum nach Auffassung seines Vertragspartners die anerkannte Leistungspflicht enden soll (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, r+s 2000, 213, 215).
Hat sich der Gesundheitszustand nicht geändert, aber eine neue Verweisungsmöglichkeit ergeben, ist eine berufsbezogene Vergleichsbetrachtung nötig und es müssen die hieraus abgeleiteten Folgerungen aufgezeigt werden. Dabei sind die frühere, bis zum Eintritt der Berufsunfähigkeit ausgeübte Tätigkeit und die jetzt ins Auge gefasste Tätigkeit unter Darlegung der jeweiligen Anforderungen und erforderlichen Fähigkeiten sowie der finanziellen und sozialen Wertschätzung gegenüberzustellen (vgl. Prölss/Martin/Lücke, VVG, 31. Aufl., § 174 Rn 25; Knechtel in: Ernst/Rogler, Berufsunfähigkeitsversicherung, § 9 BUV Rn 111). Die Anforderungen an die Vergleichsbetrachtung sind jedoch geringer, wenn bei einer konkreten Verweisung der Versicherte den neuen Beruf – wie hier – bereits ausübt, ihn also kennt und zu einer entsprechenden Beurteilung in der Lage ist (vgl. BGH r+s 2000, 213; OLG Saarbrücken, r+s 2010, 521).
Die Einstellungsmitteilung vom 11.4.2017 stellt die frühere, bis August 2008 ausgeübte Tätigkeit des Kl. und die Vergleichstätigkeit mit ihren jeweiligen Anforderungen gegenüber. Auch die Einschränkungen im Rahmen der Vergleichstätigkeit werden genannt. Das Untersuchungsergebnis des vollständig beigefügten Gutachtens des Herrn Dr. S. vom 20.2.2017 wird übersichtlich und verständlich zusammengefasst. Dies gilt auch für die daraus abgeleitete Folge, wonach bei dem Kl. spätestens seit Januar 2017 ein bedingungsgemäßer Grad der Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % nicht mehr vorliege. Die knappen Ausführungen zur Wahrung der Lebensstellung erwähnen zwar ausschließlich das nunmehr höhere erzielte Einkommen, sind aber als ausreichend zu betrachten. Erkennbares Ziel der Bekl. mit dem Schreiben vom 11.4.2017 war es, nach dem Wegfall der Berufsunfähigkeit die Leistungen zum nächstmöglichen Zeitpunkt einzustellen.
b) Die sich eröffnende Verweisungsmöglichkeit ist nicht durch zeitlich frühere Nachprüfungsentscheidungen der Bekl. "verbraucht" worden.
Verweisungsmöglichkeiten, die dem VR schon bei Abgabe des Leistungsanerkenntnisses zu Gebote standen, hat dieser für die Zukunft verloren (vgl. BGH r+s 1994, 72 unter II. 2. c). Nichts anderes gilt, wenn der VR nach Durchführung eine...