StVG § 3 Abs. 1; FeV § 46 Abs. 1
Leitsatz
1. Zwar haben die dem Bagatellbereich zuzurechnenden Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich bei der Prüfung der Fahreignung außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.5.1973 – BVerwG VII C 12.71 – juris, Rn 9). Davon ist jedoch dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Inhaber der Fahrerlaubnis die Rechtsordnung über den ruhenden Verkehr nicht anerkennt. So ist ein Kraftfahrer, der offensichtlich nicht willens ist, auch bloße Ordnungsvorschriften, die im Interesse eines geordneten, leichten und ungefährdeten Verkehrs geschaffen sind, einzuhalten, und der solche Vorschriften hartnäckig missachtet, wenn dies seinen persönlichen Interessen entspricht, zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet.
2. Besonderes Gewicht gewinnen diese Verstöße, wenn sie vornehmlich im direkten Umfeld der Wohnung des Kraftfahrers stattgefunden haben. Er stellt mit diesem Verhalten seine Interessen über die Interessen anderer Verkehrsteilnehmender.
3. Auch der Verweis des Kraftfahrers auf die mögliche Täterschaft anderer ändert nichts an dieser Bewertung. Es kann nämlich dahingestellt bleiben, ob er die Verkehrsordnungswidrigkeiten selbst begangen hat oder ein Dritter. Auch im Fall einer Täterschaft seiner Familienangehörigen wäre der Kraftfahrer zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet. Derjenige, der durch zahlreiche ihm zugehende Bußgeldbescheide erfährt, dass Personen, die sein Fahrzeug benutzen, laufend gegen Verkehrsvorschriften verstoßen, und der dagegen nichts unternimmt, weil er keine Rechtsmittel gegen die Bußgeldbescheide ergreift und auch nicht die Überlassung des Fahrzeugs an die jeweiligen Täter von Ordnungswidrigkeiten verweigert, zeigt charakterliche Mängel, die ihn selbst als einen ungeeigneten Verkehrsteilnehmer ausweisen (BVerwG, Urt. v. 17.12.1976 – BVerwG VII C 57.75 – juris, Rn 34). (Leitsätze der Schriftleitung)
VG Berlin, Urt. v. 28.10.2022 – VG 4 K 456/21
1 Sachverhalt
Der Kl. wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis. Er war seit 1995 Inhaber einer Fahrerlaubnis der damaligen Klasse 3. Im Juli 2021 erfuhr das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten Berlin, dass gegen den Kl. innerhalb eines Jahres 174 Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren geführt worden waren, darunter 159 Parkverstöße und 15 Geschwindigkeitsüberschreitungen. Nach Anhörung des Kl. entzog die Behörde ihm daher die Fahrerlaubnis aufgrund fehlender Kraftfahreignung. Hiergegen wandte der Kl. ein, die Verstöße mit den drei auf ihn zugelassenen Fahrzeugen hätten andere Personen begangen. Gegen die Entscheidungen habe er lediglich kein Rechtsmittel eingelegt, um der Behörde Arbeit zu ersparen. Die Verhängung einer Fahrtenbuchauflage sei als milderes Mittel zuvor angezeigt gewesen. Er sei beruflich auf die Fahrerlaubnis angewiesen.
2 Aus den Gründen:
Zitat
… B. Die Klage ist unbegründet.
1. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist rechtmäßig und verletzt den Kl. nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die Fahrerlaubnisentziehung ist § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 FeV. Danach hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich ihr Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 S. 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Die im Zeitraum von Juli 2020 bis Juli 2021 mindestens 174 Verkehrsordnungswidrigkeitenverfahren begründen die Feststellung der fehlenden Eignung.
Zwar haben die, durch die Nichterfassung im Verkehrszentralregister dem Bagatellbereich zuzurechnenden, Verkehrsordnungswidrigkeiten grundsätzlich bei der Prüfung der Fahreignung außer Betracht zu bleiben (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.5.1973 – BVerwG VII C 12.71 – juris, Rn 9). Davon ist jedoch dann eine Ausnahme zu machen, wenn der Inhaber der Fahrerlaubnis die Rechtsordnung über den ruhenden Verkehr nicht anerkennt; so ist ein Kraftfahrer, der offensichtlich nicht willens ist, auch bloße Ordnungsvorschriften, die im Interesse eines geordneten, leichten und ungefährdeten Verkehrs geschaffen sind, einzuhalten, und der solche Vorschriften hartnäckig missachtet, wenn dies seinen persönlichen Interessen entspricht, zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht geeignet (OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 13.3.2007 – OVG 5 S 26.07 – juris, Rn 3; OVG Lüneburg, Beschl. v. 2.12.1999 – 12 M 4307/99 – juris, Rn 10). Dabei kommt ein solcher Ausnahmefall jedenfalls dann in Betracht, wenn über einen längeren Betrachtungszeitraum nahezu wöchentlich Verstöße dokumentiert werden. Besonderes Gewicht gewinnen diese Verstöße, wenn sie an einem bestimmten Ort gehäuft auftreten und der Fahrerlaubnisinhaber damit zu erkennen gibt, dass er seine persönlichen Interessen über das Allgemeinwohl stellt. Bei der durchzuführenden Gesamtabwägung sind ferner auch sonstige Verstöße – auch wenn sie...