StVG § 2 Abs. 4 S. 1 § 3 Abs. 1 S. 1; FeV § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7, Abs. 8 § 46 Abs. 1 S. 1
Leitsatz
Für die Frage von Eignungszweifeln und die anschließende Ermessensausübung macht es einen Unterschied, ob eine fahreignungsrelevante Zuwiderhandlung erst kurze Zeit oder aber bereits mehrere Jahre zurückliegt, selbst wenn sie nach den maßgeblichen Tilgungsvorschriften noch verwertbar ist (BVerwG, Urt. v. 17.11.2016 – 3 C 20.15, zfs 2017, 474 Rn 36 zu im Fahreignungsregister eingetragenen Straftaten). Bei mehrere Jahre zurückliegenden Verkehrsverstößen hat die Fahrerlaubnisbehörde mit Blick auf deren Art, Zahl und Erheblichkeit insbesondere zu erwägen, ob verbleibende Eignungszweifel ohne Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens ausgeräumt werden können, z.B. durch Vorlage von Zeugnissen, Berichten eines Bewährungshelfers oder anderen geeigneten Beweismitteln. Wenn dies in Betracht kommt, wird sie dem Fahrerlaubnisbewerber oder -inhaber hierzu Gelegenheit geben müssen (BVerwG, Urt. v. 17.11.2016 a.a.O.). Das hat erst recht bei nicht im Fahreignungsregister eingetragenen Straftaten zu gelten, bei denen nicht schon der Gesetzgeber eine Vorentscheidung über einen bestehenden Zusammenhang zwischen Tat und Fahreignung getroffen hat. (Leitsatz der Schriftleitung)
BayVGH, Urt. v. 17.10.2022 – 11 B 20.2996
1 Sachverhalt
Der Kl. wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen B, BE, C1, C1E, L, M und S.
Mit Urt. v. 13.3.2020 hat das VG München – M 6 K 18.4094 die Klage im Wesentlichen mit der Begründung abgewiesen, der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig, da die Bekl. gemäß § 11 Abs. 8 S. 1 FeV zu Recht von der fehlenden Fahreignung des Kl. ausgegangen sei. Die auf § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV gestützte Gutachtensanordnung sei rechtmäßig gewesen. Bei den ihr zugrundeliegenden Taten der sexuellen Nötigung, der gefährlichen Körperverletzung und des sexuellen Missbrauchs handle es sich um Straftaten, die nach Nr. 3.14 (richtig: Nr. 3.16) der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stünden und Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial und eine Neigung zur impulsiven Durchsetzung eigener Interessen lieferten. Die Bekl. habe das ihr zustehende Ermessen erkannt und fehlerfrei ausgeübt. Die MPU sei auch geeignet zu klären, ob eine Einstellung und Verhaltensänderung eingetreten sei. Es sei zwar zutreffend, dass die Taten lange zurücklägen. Die Straftaten seien jedoch im Zeitpunkt der Zustellung der Gutachtensanordnung im Führungszeugnis eingetragen und verwertbar (§ 34 Abs. 1 Nr. 2 BZRG). Die Bekl. habe die länger zurückliegenden Tatzeitpunkte auch berücksichtigt, jedoch die Anordnung wegen des wiederholten Verhaltensmusters für erforderlich gehalten. Sie habe in Anbetracht des Zeitlaufs keinen Sofortvollzug angeordnet.
2 Aus den Gründen:
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Die zulässige Berufung ist begründet. Das VG hat die Klage zu Unrecht abgewiesen, da der Bescheid der Bekl. v. 12.7.2018 rechtswidrig ist und den Kl. in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Die Bekl. durfte aus der Nichtbeibringung des von ihr geforderten Fahreignungsgutachtens nicht gemäß § 11 Abs. 8 S. 1 FeV v. 13.12.2010 (BGBl I S. 1980), im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Verordnung v. 3.5.2018 (BGBl I S. 566), auf eine fehlende Fahreignung des Kl. schließen, weil sie das ihr durch § 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV eingeräumte Ermessen bei der Anordnung der Begutachtung nicht ordnungsgemäß ausgeübt hat. Ob die Beibringungsanordnung verhältnismäßig war, kann dahinstehen.
Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat (§ 2 Abs. 4 S. 1 StVG in der Fassung der Bekanntmachung vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 919], im maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz v. 30.6.2017 [BGBl I S. 2162], § 11 Abs. 1 S. 1 bis 3 FeV).
Erweist sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 3 Abs. 1 S. 1 StVG, § 46 Abs. 1 S. 1 FeV). Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken gegen die Eignung begründen, so kann die Fahrerlaubnisbehörde die Beibringung eines Fahreignungsgutachtens anordnen (§ 2 Abs. 8 StVG, § 46 Abs. 3 i.V.m. § 11 Abs. 2 bis 6 FeV). Unter anderem kann die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung (medizinisch-psychologisches Gutachten) zur Klärung von Eignungszweifeln angeordnet werden bei Straftaten, die im Zusammenhang mit der Kraftfahreignung stehen, insbesondere wenn Anhaltspunkte für ein hohes Aggressionspotenzial bestehen (§ 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 7 FeV). Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf nach § 11 Abs. 8 S. 1 FeV auf die Nichteignung geschlossen werden. Der Schluss auf die Nichteig...