VVG § 125 § 128, VRB 2006 § 17 Abs. 2
Leitsatz
Nimmt der VN einer Rechtsschutzversicherung trotz zutreffenden Hinweises des VR die Möglichkeit eines Stichentscheids nicht wahr, ist es dem VR aus Rechtsgründen nicht verwehrt, sich zur Begründung fehlender hinreichender Erfolgsaussichten auf weitere Ablehnungsgründe, als die bereits in der Deckungsablehnung angeführten zu berufen.
LG Nürnberg-Fürth, Urt. v. 22.12.2022 – 2 O 7982/21
1 Sachverhalt
Die Klagepartei nimmt die Bekl. auf Rechtsschutzdeckung für eine beabsichtigte Rechtsverfolgung im Zusammenhang mit dem sogenannten Diesel-Skandal in Anspruch. Die Klagepartei hält bei der Bekl. eine Rechtsschutzversicherung. Dem Vertrag liegen die VRB 2006 zugrunde.
Am 13.4.2015 kam es zum Kauf eines dieselbetriebenen BMW 220d. Bei dem erworbenen Fahrzeug handelte es sich um einen Wagen mit Erstzulassung am 16.4.2015. Das Fahrzeug besitzt die Abgasnorm EUR 6. Einen Rückruf des Kraftfahrzeugbundesamtes für Fahrzeuge mit dem streitgegenständlichen Motor gibt es nicht.
Mit Anwaltsschreiben vom 23.3.2021 wandten sich die Klägervertreter für die Klagepartei an die Bekl. wegen behaupteter Manipulation der Abgassteuerung. Mit Schreiben vom 19.4.2021 lehnte die Bekl. eine Deckungszusage wegen mangelnder Erfolgsaussichten ab; gleichzeitig wies sie auf die Möglichkeit der Abgabe eines Stichentscheids nach § 17 Abs. 2 VRB 2006 hin.
Die Klagepartei behauptet, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug ein Motor mit der Kennung B47 verbaut sei. Dieser sei durch die BMW AG mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung (Software) versehen worden, die den Schadstoffausstoß auf dem Prüfstand unerlaubt verringert und unter Realbedingungen erheblich mehr Schadstoffe emittiere. Es bestünden wegen der darin liegenden Täuschung über wesentliche Eigenschaften des Fahrzeugs Schadensersatzansprüche gegen die BMW AG. Darüber hinaus verfüge das Fahrzeug über ein sogenanntes "Thermofenster", bei dem es sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne der europarechtlichen Vorschriften handele.
Außerdem sei der Motor mit einer Funktion "Kaltstartheizen" versehen, was sich aus einer Überprüfung vergleichbarer Motoren schließen lasse. Hierbei handele es ebenfalls sich um eine unzulässige Abschalteinrichtung.
2 Aus den Gründen:
II. Die Klage ist jedoch unbegründet …
2. Bei der Prüfung eines schlüssigen Anspruchs der Klagepartei mit hinreichenden Erfolgsaussichten ist es der Bekl. aus Rechtsgründen nicht verwehrt, sich auf andere Ablehnungsgründe, als die in der Deckungsablehnung vom 19.4.2021 angeführten zu berufen. Gleichzeitig ist die Kammer damit gehalten, den behaupteten Schadensersatzanspruch umfassend hinsichtlich seiner Erfolgsaussichten zu prüfen. Dies folgt aus der Auslegung der anwendbaren Versicherungsbedingungen aus der maßgeblichen Sicht eines durchschnittlichen VN (zu diesem Auslegungsmaßstab zuletzt BGH, Urt. v. 9.11.2022 – IV ZR 62/22 juris Rn 11).
Zwar ist anerkannt, dass im Falle eines durchgeführten Stichentscheid-Verfahrens der VR in seiner Deckungsablehnung alle Gründe anführen muss, auf die er seine Ablehnung stützt: Nach durchgeführtem Stichentscheid kann er andere Gründe, die möglicherweise (auch) eine Deckungsablehnung tragen würden, nicht mehr nachschieben. Der VR ist also gehalten, sämtliche Ablehnungsgründe bereits in seiner Ablehnungsentscheidung anzuführen (OLG Hamm r+s 2012, 117; OLG Düsseldorf BeckRS 2017, 125981 Rn 19). Ansonsten stünde es dem VR unzulässigerweise offen, eine Klärung seiner Einstandspflicht auf eine spätere Deckungsklage zu verlagern.
Hierdurch würde der Stichentscheid jedoch seiner vorgesehenen Bedeutung beraubt, nämlich eine schnelle und eindeutige Klärung des umstrittenen Deckungsschutzes herbeizuführen (OLG Naumburg BeckRS 2016, 120854; BGH r+s 2003, 363: "rasche Klärung"; vgl. auch zu § 128 VVG in Umsetzung der Richtlinie 87/334/EWG vom 22.6.1987 und der nachfolgenden Richtlinie 2009/138/EG vom 25.11.2009 (Solvabilität-II-RL) a.a.O. in Erwägungsgrund 83 Satz 1 zu Art. 203 f. Solvabilität-II-RL: "Streitigkeiten zwischen Versicherten und Versicherungsunternehmen in Bezug auf die Rechtsschutzversicherung sollten so fair und rasch wie möglich beigelegt werden"). Diese Fokussierung bzw. Kanalisierung der Deckungsprüfung auf vom VR bereits erhobene Einwände lässt sich dem Zusammenspiel der einschlägigen Regelungen des § 17 V ARB 2006 und § 128 VVG unschwer erkennbar entnehmen.
Macht der VN allerdings – wie im Streitfall (…) – von der Möglichkeit eines Stichentscheids gar keinen Gebrauch, bringt er damit zum Ausdruck, dass eine rasche Klärung des Deckungsanspruchs für ihn nicht oberste Priorität hat. Gleichzeitig verlässt er hierdurch bewusst den "Schutzschirm" des Stichentscheid-Verfahrens. Dann wiederum besteht kein Anlass, dem VN gleichwohl eine ihm vorteilhafte Präklusionswirkung gleichsam aufzudrängen, obwohl er sich gegen ein Stichentscheid-Verfahren entschieden hat.
Vielmehr ist es dann angezeigt, die Erfolgsaussichten des geltend gemachten Rechtsschutzfalls umfassend zu prüfen, um zu einer "objekti...