BGB § 844 Abs. 3, StVG § 10 Abs. 3
Leitsatz
1. Im Rahmen der umfassenden Würdigung aller Umstände des Einzelfalls sind die wirtschaftlichen Verhältnisse des Hinterbliebenen nur dann zu berücksichtigen sind, wenn sie sich auf seine seelische Verfassung in prägender Weise ausgewirkt haben.
2. Der Umstand, dass der Schädiger seine strafrechtliche Verantwortung für den Tod des Angehörigen in Abrede stellt, allein vermag eine Erhöhung des Hinterbliebenengeldes nicht zu rechtfertigen.
3. Auswirkungen des Unfalltodes auf weitere Familienmitglieder sind im Rahmen der Bemessungsaktes ebenfalls zu berücksichtigen, wenn sie nicht ohne Folgen für das seelische Leid des Hinterbliebenen geblieben sind. (Leitsatz der Redaktion)
BGH, Urt. v. 23.5.2023 – VI ZR 161/22
1 Sachverhalt
[1] Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes in Anspruch.
[2] Am 3.9.2020 wurde der Vater der am 5.6.2001 geborenen Klägerin bei einem Verkehrsunfall getötet, den die Beklagte zu 1 mit einem bei der Beklagten zu 2 haftpflichtversicherten Pkw verursacht hatte. Die Beklagte zu 1 war mit dem von ihr geführten Pkw beim Durchfahren einer Kurve auf die Fahrspur des ihr auf seinem Motorrad entgegenkommenden Vaters der Klägerin geraten und hatte diesen frontal erfasst. Er verstarb noch am Unfallort. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach steht zwischen den Parteien außer Streit. Zum Zeitpunkt des Unfalls lebte die Klägerin noch bei ihren Eltern.
[3] Vorgerichtlich zahlte die Beklagte zu 2 der Klägerin ein Hinterbliebenengeld in Höhe von 7.500 EUR. Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin von den Beklagten als Gesamtschuldnern die Zahlung eines weiteren Hinterbliebenengeldes von mindestens 22.500 EUR nebst Zinsen.
[4] Das Landgericht hat die Beklagte unter Klageabweisung im Übrigen zur Zahlung von 4.500 EUR nebst Zinsen verurteilt. Die Berufung der Klägerin ist vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg geblieben. Mit ihrer vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klageziel in vollem Umfang weiter.
2 Aus den Gründen:
[5] I. Nach Auffassung des Berufungsgerichts, dessen Urteil unter anderem in DAR 2022, 451 veröffentlicht ist, steht der Klägerin gegen die Beklagten aus § 10 Abs. 3 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG dem Grunde nach ein Anspruch auf Hinterbliebenengeld zu. Bei der Bemessung der Anspruchshöhe, der Erwägungen der Angemessenheit zugrunde zu legen seien und bei der § 287 ZPO Anwendung finde, biete der in der Kostenschätzung des Gesetzentwurfs zur Einführung des Hinterbliebenengeldes genannte Betrag von 10.000 EUR einen greifbaren und praktikablen Ausgangspunkt bei der den Gerichten zugewiesenen Einzelfallprüfung und eröffne – unter Berücksichtigung der den jeweiligen Einzelfall prägenden Umstände – eine flexible Handhabung durch Anpassung des Hinterbliebenengeldes nach unten oder nach oben.
[6] Vor diesem Hintergrund teilt das Berufungsgericht die Auffassung des Landgerichts, dass der Klägerin ein Anspruch auf Zahlung eines den Betrag von 12.000 EUR übersteigenden Hinterbliebenengeldes nicht zusteht. Die vom Landgericht aus der seinerzeit noch bestehenden Hausgemeinschaft gefolgerte tatsächlich gelebte enge soziale Beziehung der Klägerin zu ihrem Vater, die eine moderate Erhöhung des Hinterbliebenengeldes rechtfertige, habe sich nach persönlicher Anhörung der Klägerin bestätigt. Frei von Rechtsfehlern sei auch, dass das Landgericht die wirtschaftliche Abhängigkeit der Klägerin von ihrem Vater bei der Bemessung des Hinterbliebenengeldes unberücksichtigt gelassen habe. Denn dieser Gesichtspunkt sei für die Höhe des auf Entschädigung des eigenen Gefühlschadens des Hinterbliebenen gerichteten Anspruchs auf Hinterbliebenengeld irrelevant. Entsprechend verhalte es sich sowohl für die von der Klägerin vorgetragenen Auswirkungen des Unfalltods des Vaters auf den autistischen Bruder der Klägerin und die für sie damit einhergehenden Beeinträchtigungen als auch für die zunächst bestrittene strafrechtliche Verantwortung durch die Beklagte zu 1, zumal die Klägerin unter anderem nicht vorgetragen habe, dass dadurch ihr durch den Unfalltod ihres Vaters erlittenes seelisches Leid erhöht worden sei.
[7] II. Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht in jeder Hinsicht stand.
[8] 1. Ohne Rechtsfehler und von der Revision nicht angegriffen hat das Berufungsgericht allerdings angenommen, dass der Klägerin gegen die Beklagten wegen des Unfalltods ihres Vaters dem Grunde nach ein Anspruch auf Zahlung eines Hinterbliebenengeldes aus § 18 Abs. 1 Satz 1, § 10 Abs. 3 StVG, § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG zusteht. Die Beklagten haben der Klägerin daher als Gesamtschuldner für das ihr zugefügte seelische Leid eine angemessene Entschädigung in Geld zu leisten.
[9] 2. Die Revision wendet sich aber mit Erfolg gegen die Bemessung der Hinterbliebenenentschädigung durch das Berufungsgericht.
[10] a) Zwar ist die Bemessung der Höhe der angemessenen Entschädigung grundsätzlich Sache des nach § 287 ZPO besonders freigestellten Tatrichters. Sie ist vo...