Sollte es also dabei bleiben, dass ein derartiges Schmerzensgeld nur dann zuzusprechen ist, wenn die Beeinträchtigungen des überlebenden Angehörigen die normale Trauerreaktion übersteigen, was immer das sein mag? Bei einer Subsumtion nach allgemeinen Maßstäben und mit dem Argument der Genugtuungsfunktion des Schmerzensgeldanspruchs scheint dieses Ergebnis kaum erreichbar zu sein. Ist dann wenigstens ein Angehörigenschmerzensgeld – wie Medicus? meint – aus rechtpolitischen Gründen abzulehnen?
Ich möchte an dieser Stelle einen Fall vortragen, den ich vertreten habe: Eine 31-jährige gesunde Mutter bekam in einem Krankenhaus in Hannover an einem Freitag ihr zweites Kind durch einen Kaiserschnitt. Dem Kind ging es gut, sie selbst bekam schnell ziemlich hohes Fieber und schellen Puls, und aus der Erfahrung der ersten Geburt merkte sie, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war. Nach den international festgeschriebenen Standards, die jeder Medizinstudent lernt, war von einer ernsten Entzündung auszugehen. Die Ärzte beachteten jedoch nicht, was jeder Arzt erkennen muss, ordneten halbherzige Untersuchungen an, die nicht durchgeführt wurden und werteten durchgeführte Untersuchungen nicht aus. Sie wollten bis Montag warten. In der Nacht zum Montag starb die Patientin an Kindbettfieber. Das mit der Schadensersatzklage der Angehörigen befasste Gericht verneinte einen Schmerzensgeldanspruch des Witwers und der Kinder mit der Begründung, dass eine über das Normale hinausgehende Trauerreaktion nicht festzustellen sei. Dies traf in dem vorliegenden Fall sicherlich zu. Denn sie kamen aus einer größeren, heilen Familie, in der Eltern und Geschwister des Witwers die Katastrophe menschlich nach Kräften und damit weitgehend aufgefangen haben.
Ich will hier nicht mit den Sätzen argumentieren, die ein amerikanischer Kollege in seinen closing statements gebracht und mit denen er ein Schmerzensgeld vermutlich in Millionenhöhe erreicht hätte. Ich frage mich nur: Kann eine Familie dafür benachteiligt werden, wenn sie so heil ist, dass sie eine solche Katastrophe auffängt? Und was ist, wenn sich die heutige Tendenz fortsetzt, wonach viele Paare mit akademischer Ausbildung erst spät heiraten und allenfalls ein Kind bekommen? Ein bis zwei Generationen weitergedacht, gibt es keine Familie im eigentlichen Sinne mehr, die eine solche Katastrophe auffangen kann. Sollen dann die benachteiligt sein, die im althergebrachten Sinne leben und noch eine "richtige" Familie haben? Nicht berücksichtigt werden zudem die Lebenshemmungen, die ein Vater, ein zweijähriges Kind und ein Baby natürlich ohne Frau und Mutter haben und behalten; sowie die Genugtuungswirkung eines Schmerzensgeldes.
Auch kann es bei Unfällen zu kaum zu rechtfertigenden Ungleichbehandlungen kommen. Die Passagiere des BirgenAir-Absturzes vor der Dominikanischen Republik vom Februar 1996 waren häufig ganze Großfamilien aus den neuen Bundesländern, also Geschwister, Vettern, Cousinen, deren Lebenspartner sowie die Kinder. Zurück blieb die alleinstehende, durch eine Rente versorgte Oma. Diese hatte dazu noch die Ferienreise mitfinanziert, durch den Unfall jedoch ihr komplettes soziales Umfeld verloren. Mit dem Gerechtigkeitsempfinden ist es kaum zu vereinbaren, dass bei der bestehenden Rechtslage der Schädiger in einem solchen Fall nichts, aber auch gar nichts zu zahlen hat.
Zudem ist es, schwer zu erklären, warum bei einem Flugzeugabsturz in Paris Angehörigenschmerzensgeld gezahlt wird, bei einem Absturz in Frankfurt/Main aber nicht, und warum in Deutschland ein leichtes Halswirbelschleudertrauma unter § 253 Abs. 2 BGB anstandslos entschädigt wird, während das viel schwerwiegendere Leid bei Verlust einer geliebten Person entschädigungslos beiseite geschoben wird.
Das Recht ist auch immer ein Spiegelbild seiner Zeit. Eine verantwortungsbewusste Rechtspolitik sollte das Recht auch an soziologische Veränderungen anpassen, soweit dem nicht grundsätzliche Überlegungen entgegenstehen. Dafür spricht auch die Doppelfunktion des Schmerzensgeldes, das auch eine Genugtuungskomponente hat. Wo bleibt aber bei bestehender Rechtslage diese Genugtuungsfunktion, wenn der Unfalltod eine moderne Kleinfamilie mit volljährigen oder finanziell unabhängigen Angehörigen trifft? Erst recht, wenn dieser Unfalltod schnell und ohne besonderes Leiden des Opfers eintritt, so dass dieses Opfer keinen vererbbaren Schmerzensgeldanspruch hinterlässt
Verneint man die Zuerkennung eines Angehörigenschmerzensgeldes, ist die Angelegenheit für den Täter also eine "Win-Situation". Er kommt finanziell ungeschoren davon, weil es niemanden gibt, dem er Schadensersatz zu zahlen hat. Das lässt sich mit der Genugtuungskomponente des Schmerzensgeldes jedoch kaum in Einklang bringen.
Fraglich ist zudem, ob es den Angehörigen – zum Zwecke der Erfüllung der vom BGH an die Zubilligung eines Angehörigenschmerzensgeldes gestellten Voraussetzungen – zugemutet werden soll, auch noch so geistesgegenwärtig zu sein, beim Tod des Ehemannes,...