VVG § 21 § 22; BGB § 123
1. Der anlässlich der Beantwortung von Gesundheitsfragen bei Anbahnung des Versicherungsvertrages arglistig getäuschte Versicherer ist bei einer Anfechtung nach § 123 BGB, § 22 VVG a.F. nicht darauf beschränkt, den abgeschlossenen Versicherungsvertrag insoweit bestehen zu lassen, als er ihn auch ohne die Täuschung abgeschlossen hätte. Vielmehr kann er sich insgesamt vom Vertrag lösen, ohne dass es etwa auf eine Kausalität i.S.d. § 21 VVG a.F. ankäme (Fortführung von BGHZ 163, 148).
2. Erlangt der Versicherer im Vertrauen auf die Wirksamkeit einer zu weit gefassten und deshalb unwirksamen Schweigepflichtsentbindung (vgl. dazu BVerfG VersR 2006, 1669) Informationen über den Gesundheitszustand des Versicherten, die eine arglistige Täuschung durch die unrichtige Beantwortung von Gesundheitsfragen bei der Anbahnung des Versicherungsvertrages aufdecken, führt dies nicht in jedem Fall zur Unverwertbarkeit dieser Erkenntnisse. Vielmehr kann die insoweit gebotene Güterabwägung ergeben, dass der Versicherer weder unter dem Gesichtspunkt der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB) an der Anfechtung, noch wegen eines prozessualen Verwertungsverbots an der Einführung der gewonnenen Erkenntnisse in einen Rechtsstreit gehindert ist.
BGH, Urt. v. 28.10.2009 – IV ZR 140/08
Der Kläger begehrt Leistungen aus einer beim Beklagten abgeschlossenen selbständigen Berufsunfähigkeitsversicherungsvertrages.
Der Kläger beantragte am 16.7.2004 über eine Versicherungsmaklerin beim Beklagten deren Abschluss. Im Antragsformular, das der für die Maklerin auftretende Zeuge S ausfüllte, wurden insbesondere die Fragen nach Krankheiten, Unfallfolgen oder körperlichen Schäden des Rückens oder Nackens innerhalb der letzten fünf Jahre verneint. Tatsächlich war der Kläger im Dezember 1999, im Juli 2001 und im Mai 2004 jeweils wegen Rückenschmerzen, die zumindest mit drei Massageterminen therapiert wurden, bei seinem Hausarzt in Behandlung gewesen.
Im Februar 2005 beantragte der Kläger unter Beifügung einer generellen Schweigepflichtentbindungserklärung, deren genauer Inhalt nicht feststeht, beim Beklagten Leistungen wegen Berufsunfähigkeit, da er wegen einer psychischen Erkrankung seine bisherige Tätigkeit als angestellter Musiklehrer dauerhaft nicht mehr ausüben könne. Unter Hinweis auf unrichtige Angaben zu den Gesundheitsfragen bei Stellung des Versicherungsantrages trat der Beklagte im Oktober 2005 vom Vertrag zurück und focht seine Annahmeerklärung wegen arglistiger Täuschung an.
Aus den Gründen:
[14] “II. … 1. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Vorliegen einer arglistigen Täuschung durch unrichtige Angaben im Versicherungsantrag werden von der Revision als solche nicht mehr angegriffen. Sie wendet stattdessen ein, der Beklagte sei in seinem Anfechtungsrecht darauf beschränkt, den Versicherungsvertrag nicht insgesamt zu vernichten, sondern auf einen Vertrag unter Ausschluss von Erkrankungen der Wirbelsäule zu reduzieren. Denn einen solchen Vertrag hätte der Beklagte auch in Kenntnis der verschwiegenen Umstände abgeschlossen.
[15] Damit kann die Revision keinen Erfolg haben.
[16] a) Der zur Anfechtung Berechtigte hat nach § 142 Abs. 1 BGB die Möglichkeit, entweder am betroffenen Rechtsgeschäft festzuhalten oder dieses insgesamt und mit Rückwirkung (ex tunc) unwirksam zu machen. Der Senat hat die Geltung der umfassenden Nichtigkeitsfolge der Anfechtung für das Versicherungsrecht im Senatsurt. v. 1.6.2005 (BGHZ 163, 148) ausdrücklich bestätigt und dabei insbesondere den Umstand berücksichtigt, dass dem Versicherer trotz der anfänglichen Unwirksamkeit gem. § 40 Abs. 1 VVG a.F. die vereinbarten Prämien verbleiben. Weder muss sich der arglistig Getäuschte danach auf eine zeitliche Beschränkung der Nichtigkeitsfolge verweisen lassen, noch muss er sich grundsätzlich eine inhaltliche Beschränkung entgegenhalten lassen. Das Recht zur Arglistanfechtung eröffnet die Möglichkeit, sich von einer durch Täuschung beeinflussten Willenserklärung vollständig zu lösen. Der Erklärende wird auch nicht an einer hypothetischen Erklärung festgehalten, die er bei Kenntnis der wahren Sachlage abgegeben hätte. Für die von der Revision eingeforderte Kausalitätserwägung ist insoweit kein Raum.
[17] Zwar mag es Fallgestaltungen geben, in denen der Anfechtungsberechtigte auch einen Mittelweg beschreiten und lediglich einzelne, inhaltlich abgrenzbare Teile des Rechtsgeschäfts vernichten kann (vgl. BAG NJW 1970, 1941). Mit einer solchen Möglichkeit des Anfechtungsberechtigten korrespondiert jedoch grundsätzlich keine Pflicht, hiervon auch Gebrauch zu machen.
[18] b) Der Streitfall gibt keinen Anlass, von diesem Grundsatz abzuweichen. Die von der Revision geforderte Beschränkung der Anfechtungswirkung würde das vom arglistig täuschenden Antragsteller zu tragende Aufdeckungsrisiko sachwidrig auf den Versicherer verlagern. Dieser bliebe im Falle der Nichtaufdeckung der Falschangaben durch einen Vertrag verpflichtet, den er ohne die Täuschung nicht mit dies...