BGB § 252; ZPO § 287
Leitsatz
1. Trifft ein Schadensereignis ein Kind, hinsichtlich dessen beruflicher Zukunft zum Schadenszeltpunkt eine verlässliche Prognose nicht möglich ist, kann der Tatrichter bei der Prognose des Erwerbsschadens auch den Beruf, die Vor- und Weiterbildung der Eltern, deren Qualifikation in der Berufstätigkeit, die beruflichen Pläne für das Kind sowie schulische und berufliche Entwicklungen von Geschwistern berücksichtigen.
2. Lässt die tatsächliche Entwicklung des Kindes zwischen dem Zeitpunkt der Schädigung und dem Zeitpunkt der Schadensermittlung weitere Anhaltspunkte für die Begabung und Fähigkeiten des Kindes zur Bestimmung der Art der Berufstätigkeit ohne den Schadensfall erkennen, ist dies bei der Prognose des Erwerbsschadens zu berücksichtigen und von einem dementsprechenden normalen beruflichen Werdegang auszugehen.
(Leitsätze der Schriftleitung)
BGH, Urt. v. 5.10.2010 – VI ZR 186/08
Sachverhalt
Der 1977 geborene Kl. hat den bekl. Gynäkologen wegen eines geburtshilflichen Behandlungsfehlers, der einen schweren Hörschaden des Kl. zur Folge hatte, auf den Ersatz von Verdienstausfall in Anspruch genommen. Der seit 2001 arbeitslose Kl. hatte den Realabschluss erreicht und eine Ausbildung zum Tischler absolviert. Sein Vater ist Maschinenbautechniker mit Weiterqualifikation zum Berufsschullehrer für EDV, sein Bruder, der ausgebildeter Kommunikationstechniker ist, ist als Projektentwickler für Betriebssysteme tätig.
Das LG, dessen Urteil durch das BG bestätigt worden ist, stellte rechtskräftig fest, dass der Bekl. verpflichtet ist, dem Kl. wegen dessen bei der Geburt davongetragenen Hörschadens alle seit 1985 entstandenen und künftig noch entstehenden materiellen Schäden zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht auf Sozialleistungsträger übergegangen ist. Der Kl. hat von dieser Entscheidung ausgehend seinen Verdienstausfallschaden nach der Differenz zwischen dem Nettogehalt, das er nach abgeschlossenem Hochschulstudium der Informationstechnologie hätte erzielen können und dem tatsächlich erzielten Nettoeinkommen als Tischler bzw. dem nunmehr von ihm bezogenen Arbeitslosengeld berechnet.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Das BG hat auf die Berufung des Kl. durch Grund- und Teilurteil den Klageanspruch dem Grunde nach insoweit für gerechtfertigt erklärt, als mit ihm der Verdienstsausfallschaden geltend gemacht wird, der sich aus 80 % der Differenz zwischen dem durchschnittlichen Nettoverdienst eines angestellten Tischlergesellen und dem durchschnittlichen Nettoverdienst eines angestellten, nicht akademisch ausgebildeten Kommunikationstechnikers ergibt. Im Übrigen hat es die Berufung des Kl. zurückgewiesen. Dagegen richten sich die vom BG zugelassenen Revisionen beider Parteien.
Beide Revisionen wurden zurückgewiesen.
2 Aus den Gründen:
"[4] I. Das BG hat im Wesentlichen ausgeführt:
[5] In dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang sei die Berufung zur Entscheidung reif und der geltend gemachte Anspruch dem Grunde nach gerechtfertigt; für eine Endentscheidung fehle bisher mangels Feststellungen zur Höhe des Verdienstausfalls die Entscheidungsreife, sodass durch Grund- und Teilurteil zu entscheiden sei.
[6] Die Verpflichtung des Bekl., den dem Kl. auf Grund der bei seiner Geburt erworbenen Hörschädigung entstandenen Verdienstausfallschaden zu ersetzen, stehe rechtskräftig fest. Nach dem Ergebnis der ergänzenden Beweisaufnahme sei der Senat nach dem Beweismaß des § 287 ZPO davon überzeugt, dass der Kl. auf Grund des Hörschadens in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang einen Verdienstausfallschaden erlitten habe. Die Prognose der beruflichen Entwicklung des Kl. ohne das Schadensereignis lasse es als überwiegend wahrscheinlich erscheinen, dass der Kl. ohne die Hörschädigung einen dem Beruf eines nicht akademisch ausgebildeten Kommunikationstechnikers entsprechenden Beruf mit höherer Bezahlung als in dem tatsächlich ausgeübten Tischlerberuf ergriffen und ausgeübt hätte. Bei dem Kl. sei ein ausreichendes Begabungspotenzial vorhanden gewesen. Insoweit könnten die familiären Umstände, nämlich der berufliche Erfolg der Eltern und Geschwister, herangezogen werden. Dem stünden die vorliegenden Sachverständigengutachten nicht entgegen, soweit ihnen zu entnehmen sei, dass die berufliche und ausbildungsbezogene Familienanamnese allein keinen sicheren Rückschluss auf den einen oder anderen Lebensweg einer Person zulasse. Hier gehe es nicht um eine mit wissenschaftlicher Exaktheit zu beantwortende Frage, sondern um eine Schätzung im Gesamtkontext. Die Sachverständige Dr. W habe ausgeführt, dass der Lernerfolg sich im Spannungsfeld zwischen natürlicher Begabung und Umweltgegebenheiten abspiele.
[7] Das Fehlen sog. Schlüsselqualifikationen (Motivation, Fleiß, Anpassungsfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit usw.) bei dem Kl. führe nicht zu der Annahme, er hätte auch ohne die Hörschädigung keinen besseren Schulerfolg erzielt, weil bei ihm seit der Geburt eine Halbseitenstörung (motorische Steuerungsbeeinträchtigung der linken Körperhälfte) vorli...