StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3, S. 4
Leitsatz
Bei Maßnahmen nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem muss der Betroffene rechtskräftige Entscheidungen über eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit gegen sich gelten lassen. Die Rechtskraft wird nicht schon mit der gerichtlichen Feststellung der Zulässigkeit eines Wiederaufnahmegesuchs, sondern erst mit der Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens beseitigt.
BayVGH, Beschl. v. 9.12.2020 – 11 CS 20.2039
Sachverhalt
Der ASt. wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem und der Verpflichtung zur Ablieferung seines Führerscheins.
Der ASt. hatte geltend gemacht, die Entziehung der Fahrerlaubnis sei rechtswidrig, weil sie sich auf einen Bußgeldbescheid stütze, hinsichtlich dessen er die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragt habe. Das zuständige AG habe den Wiederaufnahmeantrag für zulässig erklärt und die weitere Vollstreckung aus dem Bußgeldbescheid unterbrochen.
Der BayVGH hat im Beschwerdeverfahren eine Ausnahme von der Bindungswirkung des Bußgeldbescheids verneint. Der Beschluss, mit dem ein Wiederaufnahmegesuch für zulässig erklärt wird, enthalte noch keine Entscheidung sachlicher Art und berühre die Rechtskraft der angegriffenen Entscheidung nicht. Dass das AG eine Unterbrechung der Vollstreckung nach § 260 Abs. 2 StPO angeordnet habe, lasse allein erkennen, dass es dem Wiederaufnahmeantrag bei vorläufiger Bewertung Erfolgsaussichten zuspreche. Weitere Erkenntnisse müssten dem amtsgerichtlichen Verfahren vorbehalten bleiben.
2 Aus den Gründen:
"… II."
[11] 1. Die Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg. (…) Selbst wenn man von einer Erfüllung des Darlegungserfordernisses und damit einer zulässigen Beschwerde ausgeht, ist diese nicht begründet. Denn aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der VGH beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 S. 1 u. 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des VG zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen oder wiederherzustellen wäre.
[12] a) Nach § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StVG in der Fassung der Bekanntmachung v. 5.3.2003 (BGBl I S. 310, 919), im maßgebliche Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz v. 5.12.2019 (BGBl I S. 2008), gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen und die Fahrerlaubnis ist zu entziehen, wenn sich acht oder mehr Punkte nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem (§ 40 i.V.m. Anl. 13 FeV v. 13.12.2010 [BGBl I S. 1980], im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz v. 5.12.2019 [BGBl I S. 2008], in Kraft getreten zum 1.6.2020) ergeben. Diese Maßnahme, für die der Behörde kein Ermessensspielraum eingeräumt ist, ist kraft Gesetzes sofort vollziehbar (§ 4 Abs. 9 StVG).
[13] Punkte ergeben sich mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird (§ 4 Abs. 2 S. 3 StVG). Nach § 4 Abs. 5 S. 4 StVG ist die Behörde bei Maßnahmen nach dem Stufensystem des § 4 Abs. 5 S. 1 StVG an die rechtskräftige Entscheidung über die Straftat oder Ordnungswidrigkeit gebunden. Abzustellen hat sie dabei auf den Punktestand, der sich zum Zeitpunkt der Begehung (und nicht der Ahndung) der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (§ 4 Abs. 5 S. 5 StVG). Frühere Zuwiderhandlungen, deren Tilgungsfrist zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war, werden bei der Berechnung des Punktestands berücksichtigt (§ 4 Abs. 5 S. 6 Nr. 2 StVG); spätere Verringerungen des Punktestands aufgrund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt (§ 4 Abs. 5 S. 7 StVG).
[14] Die Entziehung der Fahrerlaubnis nach dem Fahreignungs-Bewertungssystem setzt voraus, dass der Fahrerlaubnisinhaber zuvor das Stufensystem des § 4 Abs. 5 StVG ordnungsgemäß durchlaufen hat (§ 4 Abs. 6 StVG), d.h. dass er bei Erreichen von vier oder fünf Punkten ermahnt (§ 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 1 StVG) und bei Erreichen von sechs oder sieben Punkten verwarnt (§ 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 2 StVG) wurde.
[15] b) Daran gemessen begegnet der angegriffene Bescheid keinen Bedenken. Der ASt. hat das Fahreignungs-Bewertungssystem ordnungsgemäß durchlaufen und zum Tattag 10.2.2020 acht oder mehr Punkte i.S.d. § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3 StVG erreicht. Die Fahrerlaubnis war ihm daher zwingend zu entziehen.
[16] aa) Dagegen kann nicht ins Feld geführt werden, die dem Bußgeldbescheid vom 4.7.2019 zugrunde liegende Ordnungswidrigkeit habe nicht der ASt., sondern sein Bruder begangen. Dieser Bußgeldbescheid ist seit dem 24.7.2019 rechtskräftig. Daran ist die Antragsgegnerin nach § 4 Abs. 5 S. 4 StVG gebunden.
[17] Eine Ausnahme von dieser Bindungswirkung sieht das Gesetz nach der Rspr. des Senats nicht vor. Vielmehr muss der Betr. eine Entscheidung über eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit so lange gegen sich gelten lassen, wie die Rechtskraft der Entscheidung besteht (BayVGH, Beschl. v. 6.3.2007 – 11 CS 06.3024, juris Rn 11; Beschl. v. 10.7.2019 – 11 CS 19.1081, juris Rn 12; vgl. auch OVG NW, Beschl. v. 9.6.2...