VVG § 180; AUB 2008 Ziff. 2.1.1.1. Ziff. 9.4.
Leitsatz
Maßgeblich für die Erstbemessung der Invalidität in der Unfallversicherung ist allein der Zeitraum des Ablaufs der Invaliditätsfrist. Auf die Drei-Jahresfrist für die Neubemessung kommt es nur dann an, wenn der Versicherungsnehmer noch vor Ablauf dieser Frist klageweise Invaliditätsansprüche geltend macht.
OLG Dresden, Beschl. v. 5.8.2020 – 4 U 322/20
Sachverhalt
Die Kl. schloss für ihren am 6.11.1995 geborenen Sohn (im Folgenden Versicherter) mit der Bekl. zwei Unfallversicherungsverträge ab, in denen die Zahlung einer Unfallrente bei einem Invaliditätsgrad ab 50 % i.H.v. 615 EUR und 250 EUR jeweils monatlich vereinbart worden war. Den Verträgen liegen die AUB 2008 der Bekl. zugrunde, die u.a. folgende Regelungen enthalten:
"2.1.1 Voraussetzungen für die Leistung:"
2.1.1.1 Die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit der versicherten Person ist unfallbedingt dauerhaft beeinträchtigt (Invalidität). Eine Beeinträchtigung ist dauerhaft, wenn sie voraussichtlich länger als drei Jahre bestehen wird und eine Änderung des Zustandes nicht erwartet werden kann.
Die Invalidität ist
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innerhalb eines Jahres nach dem Unfall eingetreten und |
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innerhalb von 15 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt und von Ihnen bei uns geltend gemacht worden. |
2.1.2.2.1 Bei Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit der nachstehend genannten Körperteile und Sinnesorgane gelten ausschließlich, die folgenden Invaliditätsgrade:
Arm 70 %
(…) Hand 55 %
(…) Bei Teilverlust oder teilweiser Funktionsbeeinträchtigung gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes.“
Am 3.6.2014 stürzte der Versicherte mit dem rechten Oberarm auf einen Blumentopf, der zersplitterte. Der Versicherte zog sich dabei tiefe Schnittverletzungen am Oberarm zu, die noch am Unfalltag operativ versorgt wurden. Hierbei wurde eine Verletzung des Nervus ulnaris, des Nervus medianus, der Arteria brachialis des Oberarmes sowie von Teilen der M. biceps und M. triceps diagnostiziert. Am 15.1.2015 konnte eine motorisch komplette Parese weiterer Nerven festgestellt werden. Am 13.4.2015 bestätigte Dr. G. einen nahezu vollständigen Funktionsverlust der rechten Hand und ein Streckdefizit des rechten Armes. Die Frage, ob die Unfallverletzungen vollkommen abheilen werden, verneinte er, die sichere Feststellung eines Dauerschadens sei nach zwei Jahren möglich. Die Bekl. erklärte daraufhin mit Schreiben v. 5.5.2015, dass sie den Schadensfall bis Juni 2016 zurückstellen werde. Auf Veranlassung der W. Versicherungs AG, bei der der Vater des Versicherten eine weitere Unfallversicherung für den Kl. hält, wurde ein Gutachten erstellt und der Grad der Funktionsbeeinträchtigung des Armes von Dr. G. am 13.7.2015 auf 2/3 Armwert bemessen. Ebenfalls auf Veranlassung der W. Versicherungs AG wurde am 25.10.2016 von dem Facharzt für Chirurgie Dipl. med. H. eine dauernde Beeinträchtigung des rechten Armes auf 3/5 Armwert geschätzt. Das von der YYY Versicherungs AG eingeholte nervenärztliche Gutachten des Prof. Dr. B. v. 7.9.2017 kam zu einem Armwert von 5/10. Mit Schreiben v. 26.9.2017 lehnte die Bekl. Leistungen aus den Unfallversicherungen ab, weil nur ein Invaliditätsgrad von 35 % vorliege. Mit der am 6.2.2018 erhobenen Klage begehrt die Kl. Zahlung einer monatlichen Invaliditätsrente i.H.v. 865 EUR für die Vergangenheit und Zukunft.
2 Aus den Gründen:
"… Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Zu Recht hat das LG die Klage abgewiesen, denn eine Invalidität von 50 % kann nicht festgestellt werden. Es fehlt an einer dauerhaften Beeinträchtigung."
1. Maßgeblicher Stichtag für die Beurteilung der Invalidität ist der 3.6.2015 – wie das LG zutreffend angenommen hat.
Nach der Rspr. des BGH (zfs 2016, 103) ist zwischen Erstbemessung der Invalidität (§ 180 VVG) und ihrer Neubemessung (§ 188 VVG) zu unterscheiden. Eine Neubemessung der Invalidität kommt erst nach vorangegangener Erstbemessung in Betracht. Maßgeblich für die Erstbemessung ist der Zeitpunkt des Ablaufs der vereinbarten Invaliditätsfrist – hier ein Jahr – (vgl. BGH a.a.O.; BGH zfs 2017, 701). Auf die Drei-Jahres-Frist kommt es nur ausnahmsweise an, wenn der VN noch vor Ablauf dieser Neubemessungsfrist klageweise Invaliditätsansprüche geltend macht (…). In einem solchen Fall gehen nach Auffassung des BGH die Prozessbeteiligten typischerweise davon aus, dass der Streit insgesamt in dem vor Fristablauf eingeleiteten Prozess ausgetragen werden soll einschließlich etwaiger weiterer Invaliditätsfeststellungen. Diese Voraussetzungen liegen hier aber nicht vor. Die Frist für die Neufestsetzung in Ziff. 9.4 der AUB 2008 beträgt drei Jahre und wäre am 3.6.2017 abgelaufen. Die Klage wurde jedoch erst am 8.2.2018 – und damit nach Fristablauf – erhoben. Ist das Neufestsetzungsverfahren – wie hier – mangels Erstfestsetzung nicht eröffnet, ist für die nur im Neufestsetzungsverfahren vorgesehene Befristung kein Raum. Wäre der VR bei jeder medizinischen Unwägbarkeit berechtigt, drei Jahre schon mit der Erstbemessung ...