StPO § 410 § 132
Leitsatz
1. Die Zustellung eines Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten kann die Frist zur Einlegung eines Einspruchs nach § 410 Abs. 1 StPO nicht in Gang setzten, wenn der Adressat seinen Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union hat.
2. Bei der Zustellung eines Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten kommt es für die Frist des § 410 Abs. 1 StPO auf den tatsächlichen Zugang des Strafbefehls beim Empfänger an, wenn dieser seinen Wohnsitz außerhalb der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union hat. (Leitsätze der Redaktion)
LG Heilbronn, Beschl. v. 14.11.2022 – 2 Qs 91/22
1 Sachverhalt
Die StA führt seit Januar 2021 ein Strafverfahren wegen des Verdachts des unerlaubten Entfernens vom Unfallort gegen den Angeklagten. Im Zuge dessen benannte der Angeklagte am 24.1.2021 im Rahmen einer "Niederschrift über eine Sicherheitsleistung" "Frau T., U-Str., AG S." als Zustellungsbevollmächtigte für den Gerichtsbezirk S. Am 17.4.2021 erließ das AG einen Strafbefehl (Geldstrafe, Fahrerlaubnisentzug, Fahrerlaubnissperre) gegen den Angeklagten. Am selben Tag verfügte der zuständige Richter die Zustellung des Strafbefehls in russischer und lettischer Sprache an die Zustellungsbevollmächtigte, die den Empfang der übersetzten Strafbefehle am 4.6.2021 für beide Sprachen bestätigte. Am 24.6.2021 legitimierte sich die Verteidigerin und erhob zugleich Einspruch gegen den Strafbefehl. Nach erhaltener Akteneinsicht beantragte die Verteidigerin durch Schreiben vom 2.7.2021 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zugleich erhob sie nochmals Einspruch gegen den Strafbefehl. Zur Begründung trug sie vor, dass der Angeklagte den Schriftsatz des Gerichts vom 21.5.2021 erst am 22.6.2021 erhalten habe. Die StA beantragte daraufhin, dem Angeklagten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH (Urt. v. 14.5.2020 – C-615/18) Wiedereinsetzung zu gewähren. Erst am 23.5.2022 erging die angefochtene Entscheidung, mit der der Einspruch des Angeklagten als auch dessen Wiedereinsetzungsantrag als unzulässig verworfen wurden. Dieser Beschluss wurde der Zustellungsbevollmächtigten am 24.5.2022 und der Verteidigerin am 15.6.2022 zugestellt. Das LG hat auf die sofortige Beschwerde des Angeklagten den Beschluss des AG aufgehoben und festgestellt, dass der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des AG fristgerecht erfolgte.
2 Aus den Gründen:
[…] II. Die sofortige Beschwerde ist nach §§ 411 Abs. 1, 46 Abs. 3, 311 Abs. 2 StPO zulässig und in der Sache erfolgreich. Der Einspruch des Angeklagten gegen den Strafbefehl des Amtsgerichts S. vom 17.4.2021 ist mangels wirksamer Zustellung desselben nicht verfristet, sodass es auf eine Wiedereinsetzung vorliegend nicht ankommt.
1. Eine wirksame Zustellung des Strafbefehls an einen Zustellungsbevollmächtigten wäre nach § 132 StPO zur Sicherung der Durchführung des Strafverfahrens dann möglich, wenn der Beschuldigte, der einer Straftat dringend verdächtig ist, im Geltungsbereich dieses Gesetzes keinen festen Wohnsitz oder Aufenthalt hat, aber die Voraussetzungen eines Haftbefehls nicht vorliegen. Zuständig für diese Anordnung, die ausweislich der Niederschrift von Amtsanwältin H. angeordnet wurde, ist nach § 132 Abs. 2 StPO indes der Ermittlungsrichter, nur bei Gefahr im Verzuge sind auch die Staatsanwaltschaft und ihre Ermittlungspersonen (§ 152 des Gerichtsverfassungsgesetzes) hierfür zuständig. Der Akte lässt sich nicht ansatzweise entnehmen, aus welchem Grund eine Eilzuständigkeit vorgelegen haben soll. Überdies ist weder ersichtlich, ob der gemäß § 162 Abs. 1 StPO zuständige Richter kontaktiert wurde bzw. aus welchem Grund dies unterlassen wurde. In Betracht käme hierbei beispielsweise, dass der Beschuldigte nicht gegen seinen Willen festgehalten werden kann und daher die mit Verzögerungen verbundene richterliche Anordnung meist zu spät käme (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn 7). Die Anordnung der Bestellung eines Zustellungsbevollmächtigten durch die Staatsanwaltschaft ist daher rechtswidrig und hat die Unwirksamkeit einer späteren Zustellung an den Bevollmächtigten zur Folge (LG Dresden NStZ-RR 2013, 286), weil sie auf einer groben Verkennung der Voraussetzungen des Richtervorbehalts beruht (KK-StPO/Schultheis, 8. Aufl. 2019, StPO § 132 Rn 7).
2. Der Einspruch des Angeklagten wäre darüber hinaus aufgrund der Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH auch nicht verfristet.
Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Rechtssache C-615/18 (UY) ergibt sich, dass die im Recht der Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten der Unterrichtung über den Tatvorwurf nicht das unter anderem mit Art. 6 der RL 2012/13 verfolgte Ziel beeinträchtigen dürfen, das, wie sich auch aus dem 27. Erwägungsgrund der Richtlinie ergibt, darin besteht, Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten (EuGH, Urt. v. 14.5.2020 – C-615/18 (UY) Rn 49 m....