"§ 2 Abs. 8 StVG verleiht der Straßenverkehrsbehörde die Befugnis, ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzufordern, wenn Tatsachen bekannt werden, die Bedenken gegen die Eignung oder Befähigung des Bewerbers begründen. Diese allgemeine Vorschrift gilt nach § 3 Abs. 1 S. 3 StVG entsprechend im Verfahren auf Entziehung der Fahrerlaubnis. Die insofern speziellere Norm des § 4 Abs. 1 S. 1 StVG sieht allerdings vor, dass zum Schutz vor Gefahren, die von wiederholt gegen Verkehrsvorschriften verstoßenden Fahrzeugführern und -haltern ausgehen, die Fahrerlaubnisbehörde die in Abs. 3 genannten Maßnahmen (Punktesystem) zu ergreifen hat. Diese bestehen in der Verwarnung, der Anordnung der Teilnahme an einem Aufbauseminar und schließlich dem Verlust der Fahrerlaubnis beim Erreichen von 18 oder mehr Punkten."
Das Punktesystem sorgt einerseits für eine gleichmäßige Behandlung von Mehrfachtätern, andererseits räumt es ihnen die Möglichkeit ein, aufgetretene Mängel frühzeitig zu beseitigen. Gleichzeitig nimmt der Gesetzgeber mit dem Punktesystem in Kauf, dass auch Kraftfahrer am Straßenverkehr teilnehmen, die sogar schwerwiegende Verkehrsverstöße begangen haben. Auch diesen soll die Fahrerlaubnis im Regelfall nicht entzogen werden, bevor ihnen die gesetzlich vorgesehenen Angebote und Hilfestellungen unterbreitet worden sind.
Von der Beschränkung auf die Maßnahmen nach dem Punktesystem und damit von dessen Spezialität lässt § 4 Abs. 1 S. 2 StVG allerdings eine Ausnahme zu. Das Punktesystem findet keine Anwendung, wenn sich die Notwendigkeit früherer oder anderer Maßnahmen aufgrund anderer Vorschriften, insb. der Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG, ergibt.
Entscheidend ist demzufolge, ob frühere oder andere Maßnahmen als die des Punktesystems notwendig sind. Notwendig sind sie, wenn der Fahrerlaubnisinhaber als möglicherweise fahrungeeignet angesehen werden kann, obwohl ihm die Hilfestellungen des § 4 Abs. 3 StVG nicht angeboten worden sind und obwohl er die Schwelle von 18 Punkten noch nicht erreicht hat. Dazu müssen Umstände vorliegen, die den Schluss darauf zulassen, dass der Kraftfahrer auch dann nicht zu verkehrsordnungsmäßigem Verhalten zurückfindet, wenn er die präventiven Maßnahmen nach dem Punktesystem durchlaufen hat. Es muss alles dafür sprechen, dass er ungeeignet ist, am motorisierten Straßenverkehr teilzunehmen und keine Aussicht auf Besserung seines Verkehrsverhaltens besteht. Ausschlaggebend sind die Umstände des Einzelfalls, die nur in eng begrenzten, besonders gelagerten Ausnahmefällen vorliegen. Die Straßenverkehrsbehörde muss sich hier in Zurückhaltung üben und im Einzelnen darlegen, warum der Fahrerlaubnisinhaber sich von allen anderen “Punktetätern’ negativ abhebt (vgl. OVG Rh.-Pf., Beschl. v. 27.5.2009 – 10 B 10387/09 –, DAR 2009, 478 (= juris Rn 5); NdsOVG., Beschl. v. 21.11. 2006 – 12 ME 354/06 –, [zfs 2007, 302 =] NJW 2007, 313 (= juris Rn 5); BayVGH, Beschl. v. 2.4.2003 – 11 CS 02.2514 –, juris Rn 15; OVG Berlin-Bbg., Beschl. v. 10.12.2007 – 1 S 145.07 –, juris Rn 3).
Das Merkmal “notwendig’ in § 4 Abs. 1 S. 2 StVG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, bei dessen Ausfüllung der Straßenverkehrsbehörde kein Beurteilungsspielraum eingeräumt ist. Ihre Bewertung unterliegt der unbeschränkten gerichtlichen Prüfung. Weder nach dem Wortlaut der Vorschrift noch nach dem Zusammenhang oder ihrem Sinn und Zweck soll der Behörde die Entscheidung allein zugewiesen sein, ob vom grds. vorrangigen Punktesystem abgewichen werden darf. Insb. verfügt die Straßenverkehrsbehörde weder über besondere Qualifikationen, noch ist ihre Entscheidung unvertretbar (zu den übrigen – hier nicht einschlägigen – Fallgruppen, in denen ein behördlicher Beurteilungsspielraum anzuerkennen ist, vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl., § 114 Rn 24a m.w.N.).
Besteht die andere Maßnahme i.S.d. § 4 Abs. 1 S. 2 StVG in der Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens, muss sich aus der Begründung der Anordnung ergeben, warum die Behörde vom Punktesystem abweicht (vgl. § 11 Abs. 6 S. 2 FeV). Denn die Anordnung ist als reine Verfahrenshandlung nicht isoliert mit Rechtsmitteln angreifbar. Ihr Adressat muss vielmehr eigenständig prüfen, ob sie rechtmäßig und deswegen zu befolgen ist. Nur auf der Grundlage der Begründung muss der Betroffene einschätzen können, ob er sich trotz des Eingriffs in sein Persönlichkeitsrecht, der mit einer solchen Untersuchung verbunden ist, sowie der mit ihr einhergehenden Kosten der Begutachtung stellen will oder ob er die Risiken eingeht, die mit einer Verweigerung der Untersuchung verbunden sind. Deswegen ist es auch ausgeschlossen, eine unzureichende Begründung später nachzubessern (vgl. BVerwG, Urt. v. 5.7.2001 – 3 C 13.01 – [zfs 2002, 47 =] NJW 2002, 78 (= juris Rn 25 f.); OVG NRW, Beschl. v. 3.12.2007 – 16 B 749/07 –, VD 2008, 44 (= juris Rn 10).
Im Gegenzug werden sich die Erwägungen, die bei der von § 11 Abs. 3 FeV verlangten Ermessensausübung anzustellen sind, in aller Regel weitgehend mit ...