Der Gesetzgeber hat nun das erste Mal konkretisiert, was die Literatur unter den in § 276 und § 280 BGB genannten "Sorgfaltspflichten" versteht, nämlich die "zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden allgemein anerkannten fachlichen Standards". So lobenswert dieser Versuch einer Konkretisierung ist, erscheint diese Definition angesichts der in der juristischen Literatur hierzu vertretenen genaueren Ausformungen doch mehr oder weniger inhaltsleer zu sein. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, etwas "Licht ins Dunkel zu bringen" und darzustellen, was hierunter verstanden wird und werden kann.
I. Zwei Aspekte des Standardbegriffes (zugleich der Rahmen für die Feststellungen des Gutachters)
Den ärztlichen Standard kann zunächst nur ein Mediziner ermitteln, nicht ein medizinischer Laie. Zwar klingt diese Aussage banal. Aber selbst diese Frage war nicht unumstritten, da bis zum BGH prozessiert wurde. Dieser stellte klar, dass das Gericht grundsätzlich einen Sachverständigen zu beauftragen hat. Und dieser muss seine Feststellungen für den konkreten Einzelfall treffen. Das ergibt sich aus dem Gesetzestext (" … zur Zeit der Behandlung bestehenden … "). Bei seinen Ausführungen kann er aber nicht völlig frei zu Werke gehen. Den Rahmen seines Gutachtens bieten zwei Aspekte, nämlich die "wissenschaftliche Erkenntnis" und die "Akzeptanz in der Profession".
II. Primärer Aspekt: Evidenzbasierte Medizin
Der Arzt ist verpflichtet, den Patienten nach den Grundsätzen der "evidenzbasierten Medizin" zu behandeln. Dieser Begriff besagt, dass der Arzt grundsätzlich die Therapiemethode zu wählen hat, die eine "wissenschaftlich am besten gesicherte Nachweisbarkeit (Evidenz)" erbringt. Der Gutachter sollte daher bei der Bestimmung des Standards solche therapeutischen Maßnahmen als Maßstab nehmen, deren Wirksamkeit in der Wissenschaft – unter Berücksichtigung des Risikos – als gesichert gilt. Diesen "gesicherten Wirksamkeitsnachweis" wird man am besten dann belegen können, wenn mehrere vergleichbare Studien vorliegen und diese mit einer größeren Anzahl von Patienten durchgeführt wurden ("Hoher Evidenzgrad"). Doch keine Regel ohne Ausnahme: Gibt es wenige oder gar keine Studien, "ist hieraus nicht automatisch zu schlussfolgern, dass eine Standardverletzung vorliegt."
III. Sekundärer Aspekt: Tatsächliche Akzeptanz in der medizinischen Praxis
Bei der Beurteilung einer Standardverletzung hat der Gutachter die medizinische Praxis mit einzubeziehen. Wenn eine verwendete Therapiemethode in der Wissenschaft und Praxis allgemein anerkannt ist, kann nicht von einer Standardverletzung gesprochen werden. Davon können sich aber auch Abweichungen ergeben:
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Wird eine Therapiemethode im konkreten Fall und auch allgemein angewendet, hat sich in der Wissenschaft aber durch Studien deren Nicht- oder Schlechtwirksamkeit ergeben, so wird regelmäßig eine Standardverletzung zu bejahen sein. |
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Wird eine Therapiemethode im konkreten Fall angewendet, zu der es keine oder nur unzureichende wissenschaftliche Studien gibt, wird der Gutachter zu überprüfen haben, inwieweit diese Methode erstens in der klinischen Praxis einschließlich der Fachliteratur Verbreitung gefunden hat und zweitens, ob zumindest ein nicht unerheblicher Nutzen zu verzeichnen ist. |
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Wird im konkreten Fall eine Therapiemethode in der Wissenschaft nachvollziehbar als wirksam betrachtet, aber nicht allgemein angewendet, so kann der Gutachter nicht von einer Standardverletzung ausgehen, denn die evidenzbasierte Medizin ist der wichtigere Aspekt. Im Vordergrund steht der Sinn und Zweck einer ärztlichen Behandlung. Dem Patient soll die möglichst größte Chance einer Heilung geboten werden. Und dies darf dem konkret behandelndem Arzt nicht zum Nachteil gereichen. |