Nehmen wir an, das Kind einer Rechtsanwältin und eines teilzeitbeschäftigten Kindergärtners hat bei der Geburt eine Schädigung erlitten, die zu einer Schwerstbehinderung ohne Aussicht auf Eingliederung in das Erwerbsleben führt. Im Erwachsenenalter macht es Ersatz von Verdienstausfall geltend. Dazu wird vorgetragen, das Kind hätte nach Vorstellung der Eltern ohne die Schädigung ein Jurastudium absolviert und den Beruf eines Richters ergriffen. Die Versicherung des Schädigers wendet ein, keines der beiden erwachsenen Geschwister des Kindes habe ein Hochschulstudium durchlaufen; eines der Geschwister sei sogar ohne Ausbildung geblieben, das andere arbeite als angestellter Schreinergeselle. Auch die übrigen Verwandten (Onkel und Tanten) seien durchweg nicht akademisch gebildet.
Schon dieser kleine Fall zeigt die Schwierigkeiten, die bei der Prognose über die künftige berufliche Entwicklung eines Geschädigten anfallen, der im Kindes- oder Jugendalter verletzt wurde. Eine eigene schulische oder andere Biographie als Anknüpfung für eine Prognose steht ja nicht zur Verfügung, so dass hier lediglich das familiäre Umfeld eine wenn auch unscharfe Orientierung bietet. Aber an wessen beruflicher Stellung sollte man sich für die hypothetische berufliche Entwicklung des Kindes orientieren, wem schlägt es nach? Wie steht es um die Stellenaussichten in dem beabsichtigten Beruf? Wie wenn es für den Berufswunsch nicht gereicht hätte?
Um sich in einem solchen Fall der Schadensbemessung anhand der konkreten Umstände zu stellen, bedarf es eines gestuften Vorgehens: Zunächst ist zu untersuchen, ob überhaupt ein Schaden entstanden ist, und anschließend muss die Frage beantwortet werden, in welcher Höhe ein Gewinn entgangen ist. Damit sind beispielsweise folgende Fragestellungen angesprochen:
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Hätte der Geschädigte ohne Unfall überhaupt eine Erwerbstätigkeit ergriffen? |
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Wenn ja, welche Ausbildung hätte er ergriffen? |
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Hätte er diese erfolgreich beendet und wenn ja, welchen Beruf hätte er anschließend ergreifen und ausüben können? |
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Hätte er in diesem Beruf ein höheres Einkommen erzielt? |
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Welches Einkommen hätte er zu Beginn erzielt und wie hätte sich das Einkommen entwickelt? |
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Wie lange hätte er in diesem Beruf Einkommen erzielt? |
Um die bei der Beantwortung auftauchenden Schwierigkeiten meistern zu können, hat die Rechtsprechung eine Reihe von Vereinfachungen und Erleichterungen gerade für die Fälle entwickelt, in denen eine Schädigung im Kindes- oder Jugendlichenalter erfolgt ist. Diese werden im Einzelnen nachfolgend dargestellt.
I. Gleitende Absenkung der Darlegungs- und Beweislast bei "frühen" Schädigungen
Der Maßstab, der nach § 287 ZPO an die Substantiierung des Geschädigten und die Überzeugung des Gerichts angelegt wird, ist in das Ermessen des Richters gestellt. Dadurch erhalten der Geschädigte und das erkennende Gericht eine – wenn auch nicht grenzenlose – Flexibilität, die eine vernünftige Handhabung solcher Erwerbsschäden überhaupt erst ermöglicht. In der gerichtlichen Praxis hat dies dazu geführt, die Darlegungs- und Beweisanforderungen gleitend abzusenken: Je weniger Tatsachen dem Geschädigten ohne eigenes Verschulden zum Vortrag und Beleg seines Schadens zur Verfügung stehen, desto geringer sind die Anforderungen an die Substantiierung und die Überzeugungsbildung.
Die Rechtsprechung betont insoweit stets, dass der Geschädigte zwar soweit wie möglich konkrete Anknüpfungstatsachen für die erforderliche Prognose dartun und beweisen muss, insoweit jedoch an die Darlegung keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürften, wenn der Geschädigte nur wenige konkrete Anhaltspunkte für die spätere Gestaltung seines Erwerbslebens liefern könne, etwa weil er – wie im Ausgangsfall – im Zeitpunkt des Schadensereignisses noch vor oder in Ausbildung oder am Anfang der beruflichen Entwicklung stand. Zur Begründung wird angeführt, es liege in der Verantwortlichkeit des Schädigers, dass der Geschädigte in einem so frühen Zeitpunkt seiner beruflichen Entwicklung aus der Bahn geworfen werde, woraus sich die besonderen Prognoseschwierigkeiten ergeben. Wirklich überzeugend erscheint mir dies nicht. Der Schädiger soll aufgrund seines schädigenden Handelns nicht nur für die Folgen der Verletzung haften, sondern zugleich die Beweisnot des Geschädigten verantworten. Die Anknüpfung an die Vorwerfbarkeit des Verhaltens des Schädigers mag vielleicht bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Schädigung überzeugen, ist aber bei allenfalls leicht fahrlässigem Verhalten des Schädigers oder gar bei verschuldensunabhängiger Gefährdungshaftung unbefriedigend. Im Übrigen: Was kann der Schädiger dafür, dass ausgerechnet ein junger Mensch im verunfallten Kraftfahrzeug verletzt wurde? Medicus verweist zu Recht darauf, dass der Gedanke der Verantwortlichkeit für die Beweisnot an sich nur für die anerkannten Fälle der Beweisvereitelung passt. Ich halte es deshalb für näherliegend und auch ausreichend, ...