Die Feststellung, ob der Geschädigte ohne das schädigende Ereignis überhaupt Erwerbseinkommen erzielt hätte, ist in einer Reihe von Fällen schon nicht unproblematisch. Im Ausgangsfall dürfte sie nicht wirklich Zweifel aufwerfen, da weder in der Person des Geschädigten noch in seiner Familie Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass er ohne die verletzungsbedingte Behinderung keinen Beruf ergriffen hätte. Wie aber wäre es zu beurteilen, wenn der im Kleinkindalter Geschädigte aus einem familiären Umfeld stammt, das seit mehreren Generationen berufslos ist und von sozialen Leistungen lebt. Oder wie lassen sich die Fälle beurteilen, in denen ein im Jugendlichenalter Verletzter bereits vor der Verletzung auf eine traurige Karriere als Schulabbrecher und ungelernter Arbeitsloser zurückblickt, oder in denen ein junger Erwachsener vor seiner Schädigung eine von wiederkehrender Arbeitslosigkeit geprägte Erwerbsbiographie vorzuweisen hat. Und wie sind die Fälle zu beurteilen, in denen der Geschädigte seine Behauptung, er hätte ohne die Verletzung einen bestimmten Beruf – etwa ein Meisterhandwerk, eine Festanstellung im öffentlichen Dienst oder eine Karriere als Fußballprofi – ergriffen, nicht nachweisen kann.
Für all diese Fälle hat der BGH eine grundlegende Vermutung aufgestellt: Danach kann bei einem jugendlichen Menschen ohne konkrete Anhaltspunkte nicht angenommen werden, dass er auf Dauer die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten für eine gewinnbringende Erwerbstätigkeit nicht nutzen und ohne Einkünfte bleiben werde. Mit anderen Worten: Es entspricht dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, dass jedenfalls jugendliche Menschen Einkünfte durch Einsatz ihrer Arbeitskraft erzielen.
Diese Vermutung basiert auf einem Erfahrungssatz. Dass die damit verbundene Einschätzung der Richter zutreffend ist, zeigt schon der Umstand, dass sie – soweit ich es erkennen kann – keinen ernsthaften Widerspruch erfahren hat. Überdies: Die Vermutung ist zwar grundsätzlich widerlegbar. Anhaltspunkte, die einer solchen Vermutung im konkreten Fall entgegenstehen, hat die Rechtsprechung jedoch nur selten bejaht. So ist – soweit ersichtlich – nur eine Entscheidung veröffentlicht, bei der eine positive Erwerbsprognose völlig verneint wurde. Sie betraf einen im Unfallzeitpunkt 26 Jahre alten Geschädigten, der ohne Berufsausbildung und kaum der deutschen Sprache mächtig in Deutschland lebte. Allerdings hatte der Kläger, der vor dem Unfall 15 Monate lang keine Arbeit gefunden hatte, kaum Angaben zu seinem Erwerbsleben vor dem Unfall gemacht und auch ansonsten wenig dazu beigetragen, dem Gericht eine Grundlage für eine Erwerbsprognose zu verschaffen.
Im Übrigen führen auch ungünstige Erwerbsbiographien in aller Regel nicht zur völligen Versagung eines Schadens. Vom Grundsatz her erlaubt die Vermutung dem Gericht in all den Fällen, in denen sich der vom Geschädigten behauptete Berufsweg nicht nachweisen lässt, ein "Downsizing", also ein gleichsam weniger ambitioniertes Berufsziel als "Minus" zu dem behaupteten Berufswunsch anzunehmen. Dies gilt – als logische Folge der Vermutung – ausdrücklich auch dann, wenn der Geschädigte hierzu nichts Konkretes vorgetragen hat, ja er muss nicht einmal behauptet haben, er hätte den anderen Beruf ergriffen.
So hat der BGH beispielsweise bei einem im Unfallzeitpunkt 20jährigen Bäckergesellen, der nach Abschluss der Lehre kurze Zeit als Bäcker gearbeitet hatte, dann aber fast ein Jahr arbeitslos gewesen war, angenommen, auch wenn der Geschädigte die von ihm behauptete Meisterausbildung nicht nachweisen könne, so hätte sich die Prüfung einer anderen Beschäftigungsmöglichkeit – etwa die Rückkehr in den erlernten Beruf oder die Aufnahme einer berufsfremden Tätigkeit – geradezu aufgedrängt. Ähnlich hat der BGH bei einem Geschädigten, der im Unfallzeitpunkt 32 Jahre alt gewesen war und seit eineinhalb Jahren ein Kleintransportunternehmen geführt hatte, festgestellt, auch wenn das Unternehmen des Klägers auf Dauer nicht mit Erfolg betrieben worden wäre, hätten diesem als gelerntem Kfz-Mechaniker andere Verdienstmöglichkeiten etwa in einem Angestelltenverhältnis zu Gebote gestanden. In beiden Fällen hat er den Rechtsstreit an die Vorinstanz, die jeweils einen Verdienstausfallschaden in toto verneint hatten, zurückverwiesen.
Auch verhilft die Vermutung zur Annahme eines äußersten Mindestschaden etwa in Fällen, in denen die Erwerbsbiographie insgesamt eher negativ ist. Dies zeigt ein jüngerer, vom OLG Brandenburg entschiedener Fall exemplarisch auf. Dort hatte ein jugendlicher Geschädigter vor dem Unfall die Gesamtschule nach der 9. Klasse mit unterdurchschnittlichem Erfolg verlassen und den anschließenden Förderlehrgang zur Berufsvorbereitung ohne Erfolg beendet. Im Zeitpunkt des Unfalls hatte der Zwanzigjährige eine kurzfristige ABM-Maßnahme begonnen, die er unfallbedingt nicht abschließen konnte. Sein familiäres Umfeld war u.a. geprägt durch Arbeitslosigkeit beider Eltern. Das Gericht konnte zwar nicht feststel...