“ … 2. Zu Recht ist das Erstgericht zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerseite als auch die Beklagtenseite grds. für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gem. §§ 7, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 VVG einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kfz entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und nicht festgestellt werden kann, dass der Unfall für einen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Soweit die Berufung meint, der Unfall sei für den Kl. unabwendbar gewesen, verkennt sie, dass – wie das Erstgericht zu Recht angenommen hat – nicht ausgeschlossen werden kann, dass ein Idealfahrer die rückwärts fahrende Erstbeklagte früher erkannt und zumindest durch rechtzeitige Abgabe eines Warnzeichens den Unfall hätte verhindern können. Diese Unsicherheit geht zu Lasten des hierfür beweisbelasteten Kl.

3. Das Erstgericht hat ferner einen Verstoß der Erstbeklagten gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot gem. § 1 Abs. 2 StVO bejaht. Dies steht – ungeachtet des Umstands, dass bereits ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Rückwärtsfahrenden spricht – auf der Grundlage des Überwachungsvideos, auf dem der Unfallhergang bildlich festgehalten ist, fest. Dort lässt sich nämlich erkennen, dass die Erstbeklagte trotz des in die Einfahrt einfahrenden Klägerfahrzeuges nicht reagiert, sondern ihre Rückwärtsfahrt fortgesetzt hat und dann mit unverminderter Geschwindigkeit gegen das stehende Klägerfahrzeug gestoßen ist. Dieses Verhalten lässt sich nur damit erklären, dass die Erstbeklagte das ohne weiteres erkennbare Klägerfahrzeug vorkollisionär überhaupt nicht gesehen hatte, weil sie es unterlassen hatte, – wie geboten – den rückwärtigen Bereich sorgfältig zu beobachten.

4. Das Erstgericht hat ferner ein unfallursächliches Verschulden des Kl. darin gesehen, dass dieser über eine durchgezogene Linie nach links in die Tankstelleneinfahrt eingebogen ist. Ob dies zutrifft, ist zweifelhaft, kann hier aber letztlich dahinstehen.

a) Das Erstgericht ist davon ausgegangen, dass die Linksabbiegerspur an der von der X-Straße kommend ersten Einfahrt der Tankstelle so ausgestaltet ist, dass ein Abbiegen durch Überfahren einer dort befindlichen durchgezogenen Linie verkehrswidrig ist. Das Abbiegeverbot an dieser Stelle diene auch ersichtlich dazu, den Linksabbieger, der auf das Tankstellengelände einfahren möchte, auf die zweite, hintere Einfahrt zu leiten. Deshalb sei der Verkehrsteilnehmer auf dem Tankstellengelände vor einer “unberechtigten’ Einfahrt vor einem Linksabbieger geschützt, mithin im Schutzbereich des Linksabbiegeverbots.

b) Dieser Einschätzung steht entgegen, dass durchgezogene Linien nach Zeichen 295, wenn sie – wie hier – als Abgrenzung zum Gegenverkehr auf dem Belag aufgebracht sind, zwar zur Folge haben, dass Fahrzeuge sie nicht überqueren dürfen; diese Begrenzung dient indes nach allgemeiner Auffassung nur dem Schutz des Gegenverkehrs, nicht aber anderen Verkehrsteilnehmern und inbs. nicht dem wartepflichtigen Einbiegerverkehr (vgl. OLG Düsseldorf DAR 1976, 214; OLG Köln NZV 1990, 72; OLG München VersR 1995, 1506; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl., § 2 StVO Rn 91 f., jew. m.w.N.).

c) Die Haftungsbeschränkung, die sich aus dem Schutzbereich der Norm ergibt, erfährt nach obergerichtlicher Rspr. allerdings eine Korrektur mit Blick auf den Vertrauensgrundsatz: Soweit die anderen Verkehrsteilnehmer mit der Übertretung der Norm vernünftigerweise nicht zu rechnen brauchen, dürfen sie ihr Verhalten an der Erwartung ausrichten, dass die Fahrbahnmarkierungen respektiert werden (vgl. OLG Hamm VRS 59, 5). Ob dies im vorliegenden Fall dazu führt, dass Tankstellennutzer wie die Erstbeklagte darauf vertrauen dürfen, dass Linksabbieger, die auf das Tankstellengelände auffahren wollen, die Verkehrsführung beachten und nicht unter Überfahren der durchgezogenen Linie in die “erste’ Einfahrt des Tankstellengeländes abbiegen, ist indes zweifelhaft. Dagegen spricht, dass die Einfahrt an dieser Stelle nicht grds. verboten ist, sondern zumindest für Rechtsabbieger auf der … ausdrücklich erlaubt ist. Verkehrsteilnehmer, die sich auf dem Tankstellengelände aufhalten, müssen daher stets damit rechnen, dass über die “erste’ Einfahrt Fahrzeuge auf das Tankstellengelände einfahren. Muss sich aber ein Tankstellennutzer an dieser Stelle auf einfahrende Fahrzeuge einstellen, kommt es im Ergebnis kaum darauf an, ob die einfahrenden Fahrzeuge ordnungsgemäß rechts oder ordnungswidrig links in die Einfahrt einbiegen. Auch der Hinweis des Beklagtenvertreters, auf den Rechtsabbieger, der auf der … herannaht, könne sich ein Tankstellennutzer besser einstellen, als auf einen Linksabbieger, der von der Gegenrichtung aus dem Kreisel heranfährt, vermag ein unterschiedlich zu beurteilendes Vertrauen des Tankstellennutzers nicht überzeugend zu rechtfertigen. Der Zeitpunkt der Erkennbarkeit eines ...

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