Auf dem hürdenreichen Weg zur Anwendung von Verspätungsrecht nach § 296 Abs. 1 ZPO stellt die dem Anwender eine Wertung abverlangende Voraussetzung der aufgrund der Verspätung von wirksam gesetzten Fristen vorliegende Verzögerung der Erledigung des Rechtsstreits besondere Schwierigkeiten. Dass grds. der sog. absolute Verzögerungsbegriff anzuwenden ist, wonach eine Verzögerung bereits dann eintritt, wenn der Rechtsstreit bei Zulassung des verspäteten Vorbringens länger als bei Zurückweisung dauern würde (vgl. BGHZ 75, 138; BGH NJW 1983, 575), stellt zwar eine leicht festzustellende Umschreibung der Verzögerung dar, hilft aber häufig nicht weiter. Gerade in den Fällen, in denen bei Unterstellen rechtzeitigen Vorbringens der Partei mit Gewissheit festgestellt werden kann, dass die Erledigung des Rechtsstreites länger gedauert hätte, weil etwa eine weitere Beweisaufnahme, insb. durch Einholung eines Gutachtens erforderlich gewesen wäre, würde das korrekturlose Beibehalten des absoluten Verzögerungsbegriffs zu einem nicht überzeugenden Ergebnis führen. Bei rechtmäßigem, der Prozessförderungspflicht entsprechendem Verhalten hätte der Rechtsstreit mit Sicherheit länger gedauert. In diesen gerade im Arzthaftungsprozess und vergleichbaren komplexen Rechtsstreiten fehlt es damit an der Pflichtwidrigkeit der Verspätung, da die Zurückweisung zu einer Überbeschleunigung führt (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl., § 296 Rn 65). Die ursprünglich von dem BGH abgelehnte Korrektur des absoluten Verzögerungsbegriffs durch den Maßstab des hypothetischen Verzögerungsbegriffs (vgl. BGH NJW 1979, 1988; BGH NJW 1980, 945) musste aufgegeben werden, nachdem das BVerfG gerade auch zur Durchsetzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs in diesen Konstellationen dem hypothetischen Verzögerungsbegriff den Vorzug gab (vgl. BVerfG NJW 1995, 1417). Danach ist darauf abzustellen, wann der Rechtsstreit bei rechtzeitigem Vorbringen unter Wegdenken der Verspätung erledigt worden wäre. Führt diese Prognose zu der gesicherten Feststellung, dass der Rechtsstreit in diesem Falle länger gedauert hätte, ist kein Raum für eine Zurückweisung des verspäteten Vorbringens. Allerdings wird dem Richter damit eine Prognose über den hypothetischen weiteren Prozessverlauf abverlangt, die wiederum eine Einschränkung der Heranziehung des hypothetischen Verzögerungsbegriffs abverlangt. Nur dann, wenn sich ohne weitere Erwägung mit Evidenz aufdrängt, dass bei rechtzeitigem Vorbringen von einer längeren Verfahrensdauer, verglichen mit der bei Anwendung des absoluten Verzögerungsbegriffs auszugehen war. Eine Zurückweisung stellte bei dieser Konstellation einen Rechtsmissbrauch und damit einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs dar (vgl. BVerfG NJW 1995, 1417; Leipold, JZ 1988, 83).
Da der ohnehin mit dem Rechtsstreit befasste Richter über die Frage der Zulassung des verspäteten Vorbringens gerade unter dem Gesichtspunkt des hypothetischen Verzögerungsbegriffs zu entscheiden hat, kann er in seine Prognoseentscheidung seine besonderen Kenntnisse einbringen.
RiOLG a.D. Heinz Diehl